"Der Ursprung der Märchen" von Almut Bockemühl

Kunstwerk: "Die drei Federn" von Marion Donehower (Sektion Bildende Kunst)

 

 

"Ist das Märchen mächtiger als die Philosophie?"

 

"Es war einmal ein König, der drei Söhne hatte, von denen zwei klug und intelligent waren, aber der dritte sprach nicht sehr viel. Er war langsam und einfältig, und so gaben ihm seine beiden klugen Brüder den einzigen Namen, den er ihrer Meinung nach verdiente: Dummkopf."  

 

- Aus dem Märchen "Die drei Federn" von den Brüdern Grimm

 

Der Aufsatz "Der Ursprung der Märchen" von Almut Bockemühl erschien im Jahrbuch 2002 der Sektion für Literatur und Geisteswissenschaften. Auf das wichtige Diagramm von Friedrich Hiebel, das Almut Bockemühl zu Beginn ihres Aufsatzes vorstellt, wird in dem aktuellen Vortragsvideo unserer Sektionssitzung vom 6. Oktober 2023 mit dem Titel "Der dunkle Wald: Auf der Suche nach der Ars Poetica".

 

Über Almut Bockemühl 

Almut Bockemühl war von 1997-1999 zusammen mit ihren Kollegen Frank Berger, Dietrich Rapp und Martina Maria Sam kommissarische Leiterin der Sektion für Literatur- und Geisteswissenschaften der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Sie ist Autorin des Buches (noch nicht erschienen) Märchen und Rosenkreuzer (Verlag am Goetheanum). Unsere örtliche Märchengruppe, die von Marion Donehower geleitet wird, hat bei ihren Treffen ausgiebig von diesem Buch Gebrauch gemacht. Sie können das Buch erwerben, indem Sie auf diesen Satz klicken.

Die derzeitige Leiterin der Sektion, Christiane Haid, sagt über Almut Bockemühl in Christines Aufsatz über die "Geschichte der Sektion" die Sie auf dieser Website lesen können.

"Bereits 1985 begann Almut Bockemühl mit der Arbeit an Märchen.. Ihr Schwerpunkt lag weniger auf der pädagogischen Nutzung von Märchen für Kinder, sondern allgemein auf der Bedeutung von Märchen für die Entwicklung der Phantasie sowie auf der Beziehung zwischen Märchen und Anthroposophie. Themen wie die christlich-esoterischen Motive in Märchen, Rosenkreuzertum und Märchen sowie alchemistische Bilder in Märchen standen im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Daraus entstanden mehrere Publikationen und größere Märchentagungen am Goetheanum sowie die bis heute zweimal jährlich stattfindenden Märchenkolloquien. Darüber hinaus hat Almut Bockemühl 1991 mit einer Gruppe die Initiative ergriffen, jährliche Kolloquien zur Sprache in der Poesie einzurichten. Diese Kolloquien finden auch weiterhin statt und beschäftigten sich in den letzten sechsundzwanzig Jahren mit den Schriften von Friedrich Hölderlin, Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Owen Barfield, Georg Büchner, Rudolf Steiner, Durs Grünbein, Rainer Kunze, Rainer Maria Rilke, Novalis, Heinrich Böll, Günter Grass, Peter Handke, Johann Wolfgang von Goethe, Michael Donhauser, Peter Waterhouse, Erika Burkart, Friedrich Nietzsche, Georg Trakl, Marie Luise Kaschnitz, Annette von Droste-Hülshoff, Gottfried Benn, Ossip Mandelstam, Günter Eich, Franz Kafka, Conrad Ferdinand Meyer und Christian Morgenstern."

 

"Der Ursprung der Märchen" von Almut Bockemühl

Friedrich Hiebel, von 1963 bis 1983 Leiter der Sektion für die Sektion für Geisteswissenschaften der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, hat in einem Aufsatz über die Aufgaben seiner Sektion ein Diagramm gezeichnet, das sieben Bereiche für die Arbeit der Sektion nennt. In diesem Schema wurde der Märchenkunde ein Platz unter den anderen Bereichen eingeräumt. [1]

Friedrich Hiebel, "Die Sektion für Schone Wissenschaften", in: Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht, Nr. 12 / 20. März 1966, S.5

 

Wie wurde das Märchen zur Literatur?

Die Märchenforschung war und ist jedoch eines der am wenigsten erforschten Gebiete innerhalb der Sektion. Im Allgemeinen wird das Märchen in die Pädagogik verwiesen. Immerhin hat Rudolf Steiner seinen Wert für die Erziehung betont. So finden wir es auch im Lehrplan der Waldorfschulen, wo in den Kindergärten und in der ersten Klasse regelmäßig Märchen erzählt werden. Inzwischen gibt es immer mehr Puppentheater, in denen Märchen ein lebendiger und phantasievoller Teil des Repertoires sind. Wenn wir fragen, welche Märchen wir unseren Kindern erzählen können, gehören die von Anthroposophen herausgegebenen Märchensammlungen zu den besten.

Ursprünglich waren die Märchen nämlich gar nicht für Kinder gedacht, obwohl Kinder (mit ihren offenen Ohren) durchaus dabei waren, wenn es etwas zu hören gab. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg sprach Mihaly Fedics (ein Ungar, der weit über achtzig war) über seine Kindheit:

"Früher gab es keine Lampe, und das Herdfeuer leuchtete in der Spinnstube, wo die Frauen im Kreis saßen ... Auch die Männer kamen in die Stube. Jeder von ihnen hatte einen Wollmantel, den er zusammenfaltete und auf den Lehmboden des Raumes legte, damit sie darauf sitzen konnten; oder, wenn sie es vorzogen, breiteten sie ihn aus und legten sich auf den Bauch. Sie sangen - diese Männer - und erzählten Geschichten auf dem Boden. Der Raum war still. Ich hörte meist von der Ecke aus zu; ich behielt alles im Kopf. Die Männer erzählten Geschichten; einige sagten einfach so etwas wie: "So, jetzt werde ich eine Geschichte erzählen." Wenn einer fertig war, meldete sich ein anderer zu Wort, oder, wenn niemand sprach, riefen sie jemanden auf: Du erzählst eine Geschichte. Wenn ich Holz stapelte oder Bäume fällte, erzählte ich Geschichten, und ich lernte sie auch. Hier gab es einen großen Schuppen, in dem siebzig von uns wohnten. Die ganze Nacht hindurch erzählten wir im Schuppen Geschichten. Derjenige, der die Geschichte erzählte, rief oft mit lauter Stimme: "Knochen?" und erzählte dann weiter, wenn er die Antwort "Ziegelsteine!" hörte. Wenn aber nur zwei oder drei antworteten, hörte er auf, denn einige waren während des Märchens vom Schlaf übermannt worden. Wir hatten den ganzen Tag gearbeitet. Aber was mich betrifft - selbst wenn er eine ganze Woche lang Geschichten erzählt hätte, hätte ich kein Auge zugetan..." [2]

So lebte das Märchen in früheren Zeiten und in ländlichen Gebieten bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein. So hatten auch die einfachen Leute Zugang zu einer reichen Seelenbildung. Aber die Märchen waren keine Literatur, sie waren Erzählstoff für das Volk, weniger für die gebildete Oberschicht und schon gar nicht für ein akademisches Studium. Darin waren sie mit dem Theater der damaligen Zeit vergleichbar.

Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert begannen die Menschen, in diesen Volksmärchen eine gewisse Poesie zu entdecken. Es war das Zeitalter der Aufklärung, als die Königshöfe den Ton für das kulturelle Leben angaben. Die höfische Kunst war für unseren Geschmack eher künstlich, und um das Märchen einzuführen, musste es erst "höfisch" gemacht werden. So wurde das Märchen in eine Kurzgeschichte gekleidet. Man liebte das Wundersame, das Fantastische, Geschichten über Feen - vielleicht als Gegengewicht zur trockenen Vernunft. Märchen erschienen erstmals als Literatur in Abende des Genusses von G.F. Straparola (ca. 1480 - 1557). Ein Jahrhundert später folgte (ebenfalls in Italien) die klug ironische, barock verzierte Sammlung von Basile (1575 - 1632). Weitere Meilensteine sind Charles Perrault (1628 - 1703) in Frankreich und J.K.A. Musaus (1735 - 1787) in Weimar, ein Zeitgenosse Goethes. Musaus lehnte das ganze "Märchengeschäft" ab, aber auch er erzählte seine Märchen breit und mit vielen Ausschmückungen.

 

Die Romantische Revolution

Mit dem geistigen Impuls der Romantik vollzog sich gegen Ende des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ein großer Wandel im Bewusstsein. Er brachte ein völlig neues Geschichtsverständnis mit sich. Die bahnbrechende Bedeutung der Brüder Grimm, Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859), lag darin, dass sie zu den ersten gehörten, die ein historisches Sprachgefühl hatten und als Forscher die besondere stilistische Qualität der Volksmärchen erkannten. Sie waren sogar in der Lage, diese Qualität zu imitieren, wenn ihre Quelle zu Literatur entstellt worden war.

Bis heute sind die Grimmschen Märchen nach der Bibel das am meisten gelesene Buch. Obwohl ihre Sammlung bei ihrem Erscheinen kein großer Erfolg war, diente sie doch als Vorbild für alle unsere Nachbarländer. Eine Generation nach Jacob und Wilhelm Grimm gab es Märchensammler in ganz Europa: N.F.S. Grundtvig in Dänemark, P.C. Asbjornsen und Jorgen Moe in Norwegen, Hylten-Cavallius und George Stephens in Schweden, Elias Lonnrot in Finnland, A.N. Afanasiev in Russland, Vuk Stefanovic Karadzic in Serbien, Petre Ispirescu in Rumänien, K.A. Sapkarev in Bulgarien, J.F. Blade in der Gascogne und Emile Souvestre in der Bretagne, um nur einige zu nennen.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gründete Friedrich von der Leyen die Reihe, Märchen der Weltliteratur, erschienen im Diederichs Verlag in Jena. Diese Reihe wurde kontinuierlich erweitert und ergänzt, so dass dem deutschsprachigen Leser Märchen aus allen Nationen in gut kommentierten Sammlungen zur Verfügung stehen, was wohl einmalig auf der Welt ist.

 

Ansätze für die Forschung

So wurde das Märchen vom erzählerischen Inhalt zum Lesestoff und zum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung. Die im zwanzigsten Jahrhundert von Literaturwissenschaftlern, Volkskundlern und Psychologen durchgeführten Untersuchungen würden Bibliotheken füllen. Die Feldforschung wurde natürlich fortgesetzt, und es wurden enorme Anstrengungen unternommen, die Ergebnisse zu prüfen, zu katalogisieren und nach Motiven zu ordnen. Bereits 1910 legte der finnische Forscher Antti Aarne die Grundlage für eine Typologie, die 1928 von dem Amerikaner Stith Thompson neu aufgelegt und wesentlich erweitert wurde. Sie erschien zuerst in englischer Sprache.

Diese Klassifizierung unterscheidet bereits das "echte Märchen" (auch "magisches Märchen" genannt) von anderen Erzählgattungen. Nicht jede Volkstradition ist ein Märchen; es gibt auch Sagen, Legenden, komische Erzählungen, Fabeln und Mythen. Alle sind phantasievolle Erzählungen, aber sie unterscheiden sich sowohl inhaltlich als auch stilistisch erheblich. Die Volkssage zum Beispiel ist meist mit einem realen Ereignis verbunden; sie nennt Orte und Namen. Aber in diese vertraute Welt bricht plötzlich etwas Übernatürliches aus einer jenseitigen Welt" ein, etwas Schreckliches und Faszinierendes, das die diesseitige Situation durcheinander bringt.

 

Ein Beispiel aus Grimms "Deutschen Sagen"

"Schildheiss, ein altes Schloss in einer verlassenen Gegend mit Wäldern und Bergen in Deutsch-Bohenua, sollte wieder aufgebaut und restauriert werden. Als die Vorarbeiter und Arbeiter den Schutt und die Fundamente untersuchten, fanden sie viele Gänge, Keller und Gewölbe unter der Erde, mehr als sie erwartet hatten. In einem dieser Gewölbe saß ein mächtiger König auf einem Stuhl, der vor Juwelen glänzte und glitzerte, und zu seiner Rechten stand eine schöne junge Frau, die sich nicht bewegte. Sie hielt den Kopf des Königs, als ob er sich ausruhen würde. Als die Arbeiter, von Neugier und Gier getrieben, näher kamen, verwandelte sich die junge Frau in eine Schlange, die Feuer spuckte, so dass sie alle den Rückzug antreten mussten." [3]

Die Saga spielt sich auf zwei sich überschneidenden Ebenen ab. Die Legende tut dies auch, nur dass das übersinnliche Eindringen einen religiösen und andächtigen Charakter hat. Im Märchen hingegen gibt es kein "Diesseits" und "Jenseits". Innenwelt und Außenwelt existieren auf der gleichen Ebene. Das Märchen ist gleichzeitig sinnlich und geistig - es hat also einen reinen und zugleich umfassenden Charakter. Die zwei Teile der Sage und der Legende stehen im Gegensatz zur Einheit des Märchens.

Der Mythos nimmt eine besondere, höhere Stellung ein. Er findet in einer vormenschlichen Zeit statt und erzählt von den Taten der Götter; viele Mythen sind Schöpfungsmythen. In gewissem Sinne kann der Mythos als der Mutterboden angesehen werden, auf dem das Märchen wächst. Letzteres beschäftigt sich immer mit dem Menschen, seinen Entwicklungswegen und seinen Schicksalen auf der Erde. Im Mythos wird sozusagen die Bühne für den Menschen bereitet.

Leider ist es unmöglich, diese begrifflichen Unterscheidungen im Englischen klar zu treffen. Die englischen Wörter "tale" und "folktale" haben eine breitere Bedeutung als das deutsche Märchen, während fairytale oder nursery story eine engere Bedeutung haben. In dieser Erörterung werde ich mich nur mit "fairytales in the true sense" oder "ordinary folktales" befassen, beides Begriffe, die nur eine Notlösung darstellen. Dazu gehören die bekanntesten Märchen wie Rotkäppchen, Dornröschen, Die drei Federn usw. Eine Besonderheit dieser Gattung (die in jedem Volk in gleichem Maße anzutreffen ist) ist ihre geschlossene Form - ein Volksmärchen hat einen Anfang und ein Ende, die beide oft durch bestimmte Formeln gekennzeichnet sind; es ist nach regelmäßigen Regeln aufgebaut. Wir sprechen von einem "Willen zur Form", sowohl in seiner äußeren als auch in seiner inneren Form. Dem Schweizer Literaturwissenschaftler Max Lüthi ist es zu verdanken, dass er diese Form (die Stilistik der Märchensprache) erforscht und beschrieben hat. [4]

Der Russe V. J. Propp [5] spezialisierte sich auf die Struktur des Märchens, die er schließlich auf Strukturformeln zurückführte. Er nannte diese strukturelle Methode die "Morphologie des Märchens".

Ein weiterer Forschungsbereich ist die Folklore. Die phantasievollen Ideen in Märchen können mit den alten Kulten, Ritualen, Sitten und Gebräuchen eines Volkes in Verbindung gebracht werden. In den so genannten "Reisen ins Jenseits" können wir Einweihungswege sehen, hauptsächlich im Sinne des Schamanismus und nicht im Zusammenhang mit den "großen Mysterien" früherer Kulturen. [6] Hier geht es natürlich nicht um das Märchen in seiner literarischen Form, sondern um einzelne Motive oder um miteinander verbundene Motive, die sich oft bis zu den Mythologien zurückverfolgen lassen, die wir vorhin als Mutterboden des Märchens beschrieben haben.

 

Freud und Jung

Auch die Psychoanalyse hat märchenhafte Elemente entdeckt - schon bei Freud, aber erst von C. G. Jung systematisch genutzt und zu einer Methode entwickelt. In den unbewussten Ebenen unseres Seelenlebens gibt es einen Vorrat an Bildern - Jung nannte sie Archetypen -, die oft an Märchenmotive erinnern und in bestimmten Situationen über den Traum an unser Bewusstsein heranschwemmen können. Bei der Diagnose von psychischen Problemen kann es hilfreich sein, die Botschaften solcher Symbole zu entschlüsseln. Auch in der Psychotherapie hat sich das Märchen als wertvolles Hilfsmittel erwiesen, doch damit sind wir wieder beim Anwendungsbereich angelangt.

All diese unterschiedlichen Forschungsansätze haben in der "Europäischen Märchengesellschaft" (EMG) ein Forum gefunden, einer in den 1950er Jahren gegründeten wissenschaftlichen Gesellschaft, die jährlich in verschiedenen europäischen Ländern eine Tagung abhält und zahlreiche Kurse, Seminare und Märchenstunden anbietet. Dies hat viel dazu beigetragen, die akademische Forschung über das Märchen zu popularisieren. Überraschenderweise hat sich das Märchenerzählen in letzter Zeit als Beruf immer mehr durchgesetzt, sozusagen von oben wiederbelebt, nachdem es unten, im Volk, praktisch verschwunden war.

 

Was ist anthroposophische Märchenforschung?

Angesichts all dieser Aktivitäten rund um das Märchen könnte man sich fragen, ob es etwas Neues gibt, das von Seiten der Anthroposophie hinzugefügt werden könnte, oder - besser gesagt - ob es einen Ansatz gibt, der ohne die Hilfe der Anthroposophie unmöglich wäre, und wie dieser Ansatz aussehen müsste.

"Die Anthroposophie gibt uns ein Wissen, das auf geistigem Wege gewonnen wird. Sie gibt uns dieses Wissen aber nur, weil der Alltag und die auf Sinneswahrnehmung und Verstandestätigkeit beruhende Wissenschaft an eine Grenze des Lebensweges führen, an der das Seelendasein des Menschen sterben müsste, wenn es nicht über die Grenze hinauskäme. Dieser Alltag und diese Wissenschaft bringen uns nicht so an die Grenze, dass wir dort stehen bleiben müssen, sondern an dieser Grenze der Sinneswahrnehmung eröffnet sich der Blick in die geistige Welt durch die menschliche Seele selbst." [7]

Dieser zweite "Leitgedanke" Rudolf Steiners (in GA 26) gibt das Ziel aller anthroposophischen Forschung an. Diese Forschung muss sich von der gewöhnlichen Wissenschaft abheben, vor allem durch ihre Methode. Sie kann also nicht einfach das tun, was alle anderen auch tun, z.B. alle Zitate Rudolf Steiners zu einem bestimmten Thema zusammentragen. Das ist sicher sinnvoll und wird in vielen anthroposophischen Bereichen gemacht, aber das kann man natürlich nicht anthroposophische Forschung nennen, ebenso wenig wie Spekulation mit anthroposophischen Begriffen. Der "Leitgedanke" setzte eine "Grenzerfahrung" als Beginn jeder Geisteswissenschaft voraus, eine Erfahrung, die viele Wissenschaftler haben, obwohl sie sie oft nicht berücksichtigen.

Auf den von uns beschriebenen Forschungswegen ist diese Grenze der Ort, an dem wir uns nicht mehr auf externes Material verlassen können und stattdessen mit Hilfe von Theorien vorgehen müssen, über die wir unterschiedliche Meinungen austauschen können. Hier kann die anthroposophische Forschung eingreifen, nicht indem sie eine weitere neue Meinung hinzufügt, sondern indem sie einen grundlegenden Wandel in der methodischen Vorgehensweise herbeiführt. Das ist die Stoßrichtung des oben zitierten Leitgedankens.

Es beginnt damit, dass es uns nach innen lenkt und unsere Aufmerksamkeit darauf lenkt, wie wir die Gedankenaktivität in uns selbst beobachten können. Viele Menschen erleben wissenschaftliches Arbeiten als etwas, das uns austrocknet und die Seele tötet; sie denken, dass es so sein muss, und sie suchen andere Mittel, um die Bedürfnisse ihres "Herzens und ihrer Seele" zu befriedigen. Hier sind wir an einem sehr kritischen Punkt, denn das kann fast unbemerkt geschehen. Gerade in der Märchenforschung ist es leicht, die Grenzerfahrung mit sentimentalen Träumereien zu verwechseln und zu verwischen. Für Rudolf Steiner aber ist der erste Schritt zur "geistig gewonnenen Erkenntnis", die Grenzerfahrung so deutlich wie möglich zu machen, damit es zur Schicksalsfrage wird, ob wir die Grenze überschreiten können oder nicht. Dann aber wird, wie er es ausdrückt, "der Blick in die geistige Welt durch die menschliche Seele selbst eröffnet."

Für meine Fähigkeit zu denken bedeutet dies, dass ich die Klarheit des Denkens, die mich an diesen Punkt gebracht hat, nicht aufgeben sollte. Sie sollte vielmehr durch meine Grenzerfahrung in eine neue Qualität des Denkens und Bewusstseins umgewandelt werden, durch die geistige Phänomene verständlich werden. Diese neue Erkenntniskraft setzt voraus, dass wir uns von unserem eigenen Denken so weit distanzieren können, dass wir es objektiv nur als eine Denkweise unter vielen anderen sehen.

Übertragen auf das Märchen bedeutet dies, dass wir davon ausgehen müssen, dass wir es mit Beweisen für einen anderen Bewusstseinszustand zu tun haben, in dem Wissen in Bildform vermittelt wird, auch wenn wir die Weisheit der Märchensymbole vielleicht nur intuitiv erfassen können. Wenn wir nicht in ein solches Bildbewusstsein hineinschlüpfen können (zumindest experimentell), werden wir in der Märchenforschung nie wirklich weiterkommen.

Anthroposophisch gesprochen liegt der Übergang von der Verstandes- oder Empfindungsseele zur Bewusstseinsseele in der Möglichkeit, eine bewusste Wahl zwischen verschiedenen Gesichtspunkten oder Bewusstseinshaltungen zu treffen. Die Vernunft allein kann sich Bewusstseinszustände nicht vorstellen. Aber wir brauchen das früher erworbene und geübte Denkvermögen, um in dem neuen, geistigeren Bereich der Erkenntnis Unterscheidungen treffen zu können.

 

Der Ursprung des Märchens aus der Sicht der Anthroposophie

Wenden wir uns nach diesen eher philosophischen und methodischen Exkursen einer der grundlegenden inhaltlichen Fragen der Märchenforschung zu.

"Was ist eigentlich ein Märchen? Wie sind Märchen entstanden? Wie alt sind sie?"

Hier stößt die materialistische Wissenschaft bald an ihre Grenzen, denn es gibt keine Dokumente oder Ausgrabungen, auf die sich die historische Forschung gewöhnlich stützt. In der Mythologie finden wir Spuren von Märchen, die weit in die vorchristliche Zeit zurückreichen, oder umgekehrt gibt es Märchen (sogenannte "mythische Märchen"), die stark mythologisch geprägt sind. Das bedeutet aber nur, dass Märchen sehr alt sind und ihre Wurzeln bis in das mythenbildende Bewusstsein der fernen Vergangenheit zurückreichen.

1856 schrieb Wilhelm Grimm in seinen Anmerkungen zu Kinder- und Hausmärchen:

"Allen Märchen gemeinsam sind die Spuren eines Glaubens, der auf die ältesten Zeiten zurückgeht, eines Glaubens, der sich durch ein bildhaftes Verständnis der übersinnlichen Dinge ausdrückt. Das mythische Element ist wie winzige Fragmente eines zerbrochenen Juwels, die über den Boden verstreut und von Gras und Blumen bedeckt sind; nur ein Auge, das genauer hinschaut, kann diese Fragmente finden. Ihre Bedeutung ist längst verloren gegangen, aber sie ist noch spürbar." [8]

Ein poetisches Bild, aber sicherlich eines, das den Tatsachen ziemlich genau entspricht!

Wie die Märchen sind auch die (vom Volkskundler erforschten) Sitten und Gebräuche früherer Zeiten aus "einem Glauben erwachsen, der sich durch ein bildhaftes Verständnis übersinnlicher Dinge ausdrückt". Rudolf Sterner hat in seinen bewusstseinsgeschichtlichen Beschreibungen diese Fähigkeit zum bildhaften Verstehen auf einen Urzustand des Hellsehens zurückgeführt, der früher in der Menschheit existierte. Damals wurde den Menschen Weisheit aus der geistigen Welt offenbart. Diese Weisheit geriet später in Vergessenheit; sie versank in den Tiefen der Seele und konnte (bzw. kann) nur durch die Entwicklung einer individuellen Denkfähigkeit wieder erlangt werden. Die sinnvollen Zusammenhänge zwischen Bildern, die manchmal in Träumen auftauchen (in der Psychoanalyse oft genannt), können nur als Relikt dieses alten Bewusstseins verstanden werden.

 

Das literarische Märchen

Die alten Märchen sind aus diesem hellsichtigen Seelenzustand entstanden, der vor langer Zeit existierte, weshalb ein heutiger Mensch niemals ein Märchen erschaffen kann. Dennoch haben die Versuche, etwas Ähnliches zu schaffen, zur Gattung des "literarischen Märchens" geführt. Auch wenn es zweifellos eine tiefe Weisheit enthält wie ein echtes Märchen, ist das berühmte Märchen von Goethe dennoch ein literarisches Märchen. Es ist die individuelle künstlerische Schöpfung eines Menschen und unterliegt nicht den gleichen Determinanten wie das Volksmärchen.

Hier können wir eine weitere für die Märchenforschung interessante Frage hinzufügen, nämlich die Frage, wie es kommt, dass überall auf der Welt die gleichen Märchenmotive vorkommen. Die Wanderungen dieser Motive sind nachvollziehbar und haben zweifellos stattgefunden (z.B. entlang der großen Handelsstraßen). Aber diese Ähnlichkeit der Motive ist auch bei Völkern zu finden, die keine äußere Verbindung zueinander hatten. Wilhelm Grimm hat darüber geschrieben:

"Es gibt Bedingungen, die so einfach und natürlich sind, dass sie überall vorkommen, so wie es Gedanken gibt, die wie von selbst entstehen. So können die gleichen oder sehr ähnliche Märchen an den entlegensten Orten unabhängig voneinander entstehen."

Zur Beschreibung dieses Phänomens wurde ein wissenschaftlicher Begriff (Polygenese) erfunden, obwohl man sich fragen könnte, ob dieses eine Wort nicht einen Mangel an Verständnis ausgleicht. Selbst Wilhelm Grimm hat nicht verstanden, warum und woher die Märchen "entstehen". Sein Vergleich mit den Gedanken ist aber durchaus interessant. Er verbindet die Polygenese von Märchenmotiven mit der Tatsache, dass Gedanken auch unabhängig voneinander in verschiedenen geografischen Regionen gedacht werden können. Wir wissen, dass Erfindungen manchmal an verschiedenen Orten gleichzeitig auftauchen. So kommt Wilhelm Grimm durch seine unvoreingenommene Beobachtung zu einem Ergebnis, das die Geistesforschung Rudolf Steiners aus einem anderen Blickwinkel heraus erreicht hat. Grimm sieht die Parallele zwischen dem Wissen durch Bilder und dem Wissen durch Gedanken. Für ihn freilich erscheinen Gedanken (wie Märchenbilder) "wie ohne Absicht und von selbst". Er denkt nicht über den Ursprung von beidem nach und sieht auch nicht (wie Rudolf Steiner), dass der Gedanke eine Metamorphose des imaginativen Wissens ist

Wir können auch erkennen, dass das Wachstum der Märchen aus dem heimatlichen Boden der Volksseelen heraus stattgefunden hat, so wie das Wachstum sehr ähnlicher Pflanzenarten in verschiedenen Teilen der Erde stattgefunden hat, während sie noch an die örtlichen Bodenverhältnisse und das Klima angepasst waren. Hier bietet die Anthroposophie in dieser Verbindung mit der Geographie ein weiteres reiches Feld für die Volksforschung.

 

Der Einfluss der Rosenkreuzer

Bisher haben wir einzelne Bilder und märchenhafte Elemente in den Traditionen verschiedener Völker besprochen, nicht aber das Märchen als Ganzes. Wilhelm Grimm sprach vom mythischen Element als einem zerbrochenen Juwel, dessen Fragmente noch im Märchen zu finden sind. Das Märchen ist aber keineswegs bruchstückhaft, sondern hat eine klare und sogar sehr kunstvolle Komposition, in der etwas ganz Wichtiges zum Ausdruck kommt. Darauf weist auch Rudolf Steiner hin. Vom praktischen Standpunkt aus kann es sich unmöglich "selbst gemacht" haben. Es stellt sich also die Frage: "Wer hat die zerbrochenen Fragmente wieder zu Juwelen zusammengesetzt, und wann ist das geschehen?"

Auch diese Frage wurde schnell mit einer Theorie beantwortet, die aber wenig Verbreitung gefunden hat, nämlich der Theorie, dass die Märchen gar nicht im Volk entstanden sind, sondern dass sie durch den Niedergang einer Kultur zu den Menschen gekommen sind. Ich will mich hier nicht auf eine Diskussion über die Unwahrscheinlichkeiten dieser Theorie einlassen, sondern den Gedankengang mit einem Zitat von Rudolf Steiner fortsetzen:

"Es ist eine unsinnige Vorstellung, wenn die Menschen von heute glauben, sie könnten Märchen aus ihrer Phantasie formen. Die alten Märchen (die Ausdruck der alten geistigen Geheimnisse der Welt sind) entstanden, als die Menschen, die sie für die Welt formten, diejenigen belauschten und ihnen zuhörten, die ihnen geistige Geheimnisse erzählen konnten. Die Struktur, die Komposition, steht also im Einklang mit diesen alten geistigen Geheimnissen. Wir können daher sagen, dass in ihnen der Geist der ganzen Menschheit, des Mikrokosmos und des Makrokosmos, lebt." [9]

Rudolf Steiner sagt hier weder, dass das Märchen "wie von selbst" aus dem Volk entstanden ist, noch handelt es sich um den Niedergang von etwas in der Kultur. Und es ist ganz interessant, dass Steiner sich nicht auf einzelne Bilder bezieht, sondern auf die Komposition. So wie ich den Prozess verstehe, den er beschreibt, wurden die Märchen von bestimmten Personen komponiert und mit Weisheit gefüllt, die dazu inspiriert wurden, indem sie sich auf uralte Bildtraditionen beriefen. In dem oben zitierten Vortrag nennt Sterner die "Rosenkreuzer" des späten Mittelalters als diejenigen, auf die sich dies bezieht. Wir können mit dieser Hypothese beginnen und sehen, ob sie durch die Fakten, die wir beobachten können, unterstützt wird.

Die Welt des Märchens ist zweifellos eine mittelalterliche. Die Menschen werden als Bauern oder Handwerker dargestellt, die von einer Hierarchie mit einem König an der Spitze beherrscht werden; die Stellung des Königs ist von einer fast religiösen Aura umgeben. Wahrscheinlich hat ein solches Umfeld den Märchen die Form verliehen, in der sie bis heute überliefert sind. Das ist aber auch die Welt, die Rudolf Steiner in seiner Aufsatzreihe An den Pforten der Bewusstseinsseele in ihrer Stellung innerhalb der Bewusstseinsgeschichte charakterisiert hat, und ich verweise auf diese Aufsätze, damit wir die Erwähnung der Rosenkreuzer nicht unbehandelt lassen.

Steiner schreibt in diesen Aufsätzen von einer "kosmischen Intelligenz" in der Antike, die der Menschheit den Weisheitsgehalt der Welt durch Bilder offenbarte. Diese kosmische Intelligenz sank in den Jahrhunderten, von denen wir sprechen, etwa ab dem 10.th Jahrhundert bis zum 15.th Jahrhundert. Dort wurde sie in den menschlichen Seelen in die Kraft umgewandelt, individuelle Gedanken zu bilden. Steiner spricht davon, dass diese Intelligenz durch das geistige Wesen repräsentiert wurde, das in der alten Weisheit den Namen "Michael" trug. Es war eine Zeit des Übergangs, als das Alte abzufallen begann und das Neue noch nicht entstanden war. Das hellsichtige Bildbewusstsein verblasste; die Sinneswelt, die die Menschen zuvor nur schemenhaft wahrgenommen hatten, begann nur langsam, zunächst wie aus einem Nebel aufzutauchen und vom Verstand kaum erfasst zu werden. So durchdrangen die Vorstellungsbilder aus dem alten hellsichtigen Bewusstsein die Vorstellungen aus der physischen, sinnlichen Welt und vermischten sich mit ihnen. Als Beispiele für diese Bewusstseinsvermischung nennt Steiner mehrere mittelalterliche Sagen: zum Beispiel die Sagen von "Gerhard dem Guten", "Herzog Ernst" und auch die Nibelungensage.

In diesen Sagen, wie Steiner schreibt:

"Die Fakten der physischen Welt werden von der menschlichen Seele auf eine Art und Weise betrachtet, wie nur das Geistige betrachtet werden kann. Zeit und Raum haben für das Geistige eine andere Bedeutung als für das Physische. Die physische Welt wird eher in der Vorstellung als in den Gedanken abgebildet. Die geistige Welt hingegen ist in die Erzählung eingewoben, als handele es sich nicht um eine andere Form der Existenz, sondern um eine Erweiterung der physischen Tatsachen."

Steiner spricht davon, dass die Beziehung des Menschen zur geistigen Welt dadurch "unmöglich zu werden drohte". Weil Michael ein Wesen ist, das nur in reiner Geistigkeit leben kann, hatte er keine Möglichkeit, in das Mischbewusstsein der damaligen Menschheit einzutreten. Was wir als mittelalterlichen Aberglauben bezeichnen, hängt mit dieser Bewusstseinssituation zusammen.

In diesem Zusammenhang schildert Steiner dann die hilfreiche Tätigkeit der "wahren Rosenkreuzer", die er klar von all der Scharlatanerie, die unter diesem Namen auftrat, getrennt sehen wollte. Ihre Leistung bestand darin, ihr spirituelles, religiöses Leben bewusst von der materiellen Welt, in der sie oft einer praktischen Beschäftigung nachgingen, getrennt zu halten. Auf diese Weise fand Michael in ihren Seelen einen Bereich, in dem er arbeiten konnte, ohne mit der sinnlichen Welt in Kontakt zu treten. Das bedeutet nicht, dass die Rosenkreuzer keinen Übergang zwischen dem Geistigen und dem Körperlichen erlebten. Sie spürten den aktiven Geist in der Materie und den Hunger nach Materie im Geist, aber diese Übergänge, wie sie Rudolf Steiner hier beschreibt, sind nicht intellektuell zu denken, sondern nur imaginativ und in der richtigen Stimmung. Ich würde sagen, dass sie nicht intellektuell gedacht werden können, basierend auf dem, was wir in der heutigen Zeit erleben können, wo auch die Tendenz zum "Aberglauben" stark ist.

Denn damals wie heute kann die Tätigkeit des objektiven Symbolisierens eine Hilfe sein. Rudolf Steiner hat dazu immer wieder Übungen gegeben. Beim Symbolisieren stellt man sich einen Gegenstand aus der Sinneswelt vor, gibt ihm aber eine rein geistige Bedeutung, die erst dann voll erfasst werden kann, wenn die Vorstellung des Gegenstandes erloschen ist. Auf diese Weise verbindet das Symbolisieren das Geistige mit dem Körperlichen und trennt es gleichzeitig sauber vom Körperlichen.

 

Die Rosenkreuzerschulen

Kehren wir nun zu den kurzen Ausführungen Rudolf Steiners zurück, dass die Volksmärchen ihren Ursprung in den Rosenkreuzerschulen haben. Was hat er damit gemeint? Als die Rosenkreuzer die Märchen, die sie als reine Imaginationen gebildet hatten, in das sich wandelnde, gemischte Bewusstsein jener Übergangszeit stellten, gaben sie Michael die Möglichkeit, in die von diesen Symbolen durchdrungenen Menschenseelen einzudringen. Jahrhunderts, dem Jahrhundert, in dem die Gebrüder Grimm und ihre Nachfolger Schritte unternahmen, um die Märchen schriftlich festzuhalten. Von diesem Zeitpunkt an konnte Michael einen anderen Weg in die Seelen der Menschen finden, einen Weg durch das von Rudolf Steiner beschriebene "reine Denken".

Erinnern wir uns noch einmal an das, was zuvor über die Einteilung der Volksmärchen in "Gattungen" (Märchen, Sage, Legende usw.) gesagt wurde. Dies gilt in der Tat nur für Europa, nur für die Region, in der die Rosenkreuzer tätig waren. In den orientalischen Märchen und den Märchen der Naturvölker sind die Gattungen so sehr vermischt und mit realistischen Motiven durchsetzt, dass es unmöglich ist, ihre Elemente zu trennen. So ist das "echte Märchen" bewusst aus der rosenkreuzerischen Erzählung heraus entstanden. Und wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es keine bloße Formalität ist - auch wenn sie in den akademischen Disziplinen immer noch als solche behandelt wird -, sondern eine äußerst wichtige Frage, ob ein Volksmärchen einem "gemischten" Bewusstsein entspringt (wie die Sage) oder eine "reine Imagination" darstellt (wie das Märchen).

Selbst die stilistischen Bemerkungen eines Max Lüthi [11] erhalten einen ganz anderen Wert, wenn man sie vom Standpunkt des "Imaginativen" aus betrachtet, wie Rudolf Steiner das Wort verwendet. So kommt Lüthi zum Beispiel zum Schluss, dass es im Märchen keinen Hintergrund gibt, weder äusserlich im Raum noch innerlich in der Psyche. Die Elemente der Landschaft tauchen nur auf, wenn sie im Rahmen der Handlung funktionieren, und verschwinden dann wieder; die Figuren sind reine "Gestalten" ohne psychologische Komplexität. Sie erscheinen äußerlich so, wie sie innerlich sind, der gute Mensch ist schön, der schlechte Mensch ist hässlich. Alles ist sozusagen an der Oberfläche, auf der Ebene des Bildes. In Anlehnung an dieses Stilelement prägte er den Ausdruck: "Das Märchen ist zweidimensional". Vergleichen Sie dies mit der Art und Weise, wie Rudolf Steiner ein imaginatives Erlebnis beschreibt:

"Ein Bild ist da. Bezeichnenderweise haben wir immer noch das Gefühl von Raum (weil das Ding wie ein Bild ist), aber nur ein Gefühl von Raum. Denn der Raum, der jetzt erlebt wird, hat keine dritte Dimension. Nirgends erleben wir eine dritte Dimension, wir erleben den Raum nur in zwei Dimensionen, so dass unsere Erkenntnis durch das Bild kommt. Deshalb will ich dieses Wissen auch ein imaginatives Wissen nennen." [13]

Die imaginative Erfahrung ist demnach nicht räumlich, sondern zweidimensional; was Lüthi als Stil beschreibt, ist aus anthroposophischer Sicht "imaginativ".

Es war Rudolf Steiners besonderes Lebensziel, das intellektuelle Denken durch ein der Gegenwart angemessenes phantasievolles Denken zu ergänzen. Wir können auch beobachten, wie er sein ganzes Leben lang versucht hat, einen Sprachstil zu finden, der diesem phantasievollen Element entspricht. Vergleicht man einfach seine frühen philosophischen Werke mit den späten Vorlesungen (z.B. die Imaginationen der Jahreszeiten), so fällt auf, wie viel bildhafter seine Ausdrucksweise geworden ist. Andererseits steht sie immer auch im Einklang mit dem Denken. Die neue, phantasievolle Sprache ist Ausdruck eines vergeistigten Denkens, während die alte Sprache, die Märchensprache, ganz im Bild bleibt. Sie ist uns daher nicht mehr direkt zugänglich, sondern bedarf der "Interpretation".

 

Märchen im 20. Jahrhundert und heute 

Das zwanzigste Jahrhundert (das Jahrhundert der echten Märchenforschung) hat mit einem Material gearbeitet, das nicht mehr vollständig Teil des modernen Lebens ist. Das moderne Instrument des Wissens ist das Denken. Früher floss die Weisheit direkt aus dem Märchen, heute denkt man über das Märchen nach. Steiner erklärte, dass das Wissen, das die Menschen früher instinktiv durch Märchenbilder empfingen, heute durch die Anthroposophie zu gewinnen ist. In seinem Vortrag über das Märchen und das Rosenkreuzertum [14] veranschaulichte er dies in groben Zügen, indem er immer wieder einen Vergleich zog mit den Sätzen "Damals sagte man" und "Heute sagt man". Es stellt sich die Frage: Wenn das so ist, was bedeutet es dann, wenn wir heute mit den alten Volksmärchen arbeiten?

Damals haben die Menschen in Bildern gedacht; heute haben wir gelernt, uns intellektuell auszudrücken. Wir haben das so gut gelernt, weil unser Intellekt bereits im Sterben liegt.

"Es war einmal ein König, der war krank, und niemand glaubte, dass er überleben würde. Aber er hatte drei Söhne, die darüber traurig waren; sie gingen hinunter in den Schlossgarten und weinten. Dort wurden sie von einem alten Mann empfangen, der sie fragte, was los sei. Sie sagten ihm, ihr Vater sei so krank, dass er sterben könnte, denn nichts schien zu helfen. Da sagte der alte Mann: "Ich weiß ein Heilmittel - es ist das Wasser des Lebens. Wenn er davon trinkt, wird er wieder gesund werden, aber es ist schwer zu finden."

 

"Das Wasser des Lebens" / Ein Beispiel der Brüder Grimm

"Es war einmal ein König, der hatte eine Krankheit, und niemand glaubte, dass er sie mit dem Leben davonkommen würde. Er hatte drei Söhne, die darüber sehr betrübt waren und in den Palastgarten hinuntergingen und weinten. Dort trafen sie einen alten Mann, der sich nach dem Grund ihres Kummers erkundigte. Sie erzählten ihm, dass ihr Vater so krank sei, dass er mit Sicherheit sterben würde, denn nichts schien ihn heilen zu können. Da sagte der alte Mann: "Ich weiß noch ein Mittel, und das ist das Wasser des Lebens; wenn er davon trinkt, wird er wieder gesund werden; aber es ist schwer zu finden. . ."

Ist dies nicht die gleiche Situation, auf die Steiner in dem oben zitierten Leitgedanken hinweist? Die Wissenschaft wie auch das Alltagsleben führen zu einer Grenze auf dem Lebensweg, "wo das Seelendasein des Menschen sterben müsste, wenn es nicht über die Grenze hinauskäme." [16] Das ist die Situation des Menschen in der heutigen Zeit.

Es ist erstaunlich, dass die alten Märchenerzähler so gut über etwas Bescheid wussten, das für die Menschen heute aktuell ist. Aber im Märchen ist es ja auch ein alter Mann, also der Fremde aus einem anderen Land, der Ratschläge für "heute" geben kann. Die Söhne machen sich nun auf den Weg, einer nach dem anderen. Die "Wege der Erkenntnis" können wir nur allein beschreiten. Der Weg ist ihnen zunächst fremd, doch ein Zwerg steht am Wegesrand und fragt nach dem Grund ihrer Reise. Die beiden älteren Brüder finden ihn zu unbedeutend, um eine Antwort zu verdienen, und reiten in die von ihnen gewählte Richtung weiter. Schließlich kommen sie in eine Bergschlucht, die immer enger wird, bis sie weder vor noch zurück können. Sie sitzen buchstäblich fest. Doch der Jüngste, der sein Pferd bei dem Zwerg anhält und mit ihm spricht, erfährt, dass das Wasser des Lebens im Bereich eines "verwunschenen Schlosses" fließt. Um dorthin zu gelangen, muss er jedoch durch ein Tor gehen, das verschlossen bleibt, bis man dreimal mit einer Eisenstange darauf schlägt; es wird von zwei Löwen bewacht, die ihn verschlingen werden, wenn sie nicht mit zwei "kleinen Broten" besänftigt werden. Der Königssohn erhält diese hilfreichen Dinge von dem Zwerg. So gelangt er ohne große Schwierigkeiten in das Schloss, in dem das Wasser des Lebens zu finden ist, und er geht noch weiter in das Schloss hinein, wo er eine schöne Prinzessin findet, mit der er sich verlobt. Sie vereinbaren, dass er in einem Jahr zurückkehren wird.

Das vollständige Märchen steht am Ende dieses Aufsatzes].

 

Grenzlinien / Mut zur Überschreitung

Hier geht es um die Überschreitung einer Grenze, so wie wir es im Leitgedanken lesen. Auf dem Weg erhalten wir das, was wir für diese Überschreitung brauchen, wenn wir auf den hilfreichen "Zwerg" achten. Der Leitgedanke sagt auch, dass man an der Grenze nicht stehen bleiben muss, denn die Möglichkeit, sie zu überschreiten, findet sich auf dem Weg. Diese Möglichkeit wird uns gegeben, wenn wir uns ihrer bewusst werden.

Schon diese wenigen Details aus einem Märchen zeigen, wie es unser Gedankenleben befruchten und bereichern kann, wenn wir uns in die entsprechenden Bilder hineinleben. Innerlich können wir die Geste wiederholen, was es bedeutet, "in den Garten hinabzusteigen", wenn wir zur Kenntnis nehmen, was in unserem eigenen Seelenleben krank und sterbend ist. Es wird uns bewusst, wie bestimmte Eigenschaften wie Egoismus und Arroganz uns behindern können, wenn wir uns auf diesen Weg begeben haben. Und vielleicht verstehen wir auch, dass wir in uns selbst die eiserne Stange und die kleinen Brote finden werden, die uns erlauben, durch das Tor in die geistige Welt zu gehen. Der rhythmische Wechsel zwischen Gedanke und Bild bringt das Seelenleben in Bewegung und befähigt uns schließlich, den Weg in die Welt zu finden, in der das "Wasser des Lebens" in Fülle fließt.

Die weitere Entwicklung des Märchens zeigt uns jedoch, dass dies nicht ausreicht. Im Märchen ist der Weg zurück oft der schwierigste Teil. Dann geht es darum, das Gewonnene in "Alltag und Wissenschaft" einzubauen. [17] Hier werden die törichten Brüder zu echten Feinden. Sie belügen ihren Vater über den jüngsten Bruder, der fortan verachtet, verstoßen und allein im Wald lebt. Dort wartet er geduldig darauf, dass ein Jahr vergeht, nach dem er erneut zum "verwunschenen Schloss" reisen kann. Diesmal gibt es andere Bedingungen für den Zutritt. Die Verbindung zur Königstochter, die dort lebt, wurde schon früher hergestellt. Sie hat sich nun einen goldenen Weg bauen lassen, auf dem sie auf die Ankunft ihres Bräutigams wartet. Die Brüder halten weder die festgesetzte Stunde ein noch benutzen sie den richtigen Weg, sondern reiten daneben - der eine rechts, der andere links -, um nichts von dem Gold (das für sie nur einen materiellen Wert hat) abzubekommen. Der jüngste Bruder hingegen denkt nur an seine geliebte Braut und bemerkt den goldenen Weg gar nicht. So wird er freudig empfangen. Diesmal ist es seine ehrfürchtige, meditative Stimmung, die ihm Einlass verschafft. Die Hochzeit kann also gefeiert werden, was bedeutet, dass eine dauerhafte Verbindung zwischen dem Geistigen im Menschen und der kosmischen Spiritualität stattfindet.

Anhand dieser Interpretation der allgemeinen Handlung können Sie erkennen, dass nicht nur die einzelnen Bilder wichtig sind, sondern auch die Komposition. Diese Komposition führt uns in das Leben selbst, mit all seinen Spannungen und Auflösungen, Hindernissen und Momenten der Befreiung.

Fragen wir noch einmal, welche Bedeutung das Märchen in der heutigen Zeit hat. Sie könnte darin liegen, dass die Vertrautheit mit Märchen eine wunderbare Hilfe sein kann, um den für eine wahre Geisteswissenschaft notwendigen Bewusstseinswandel zu erreichen. Auch anthroposophische Begriffe kann man abstrakt denken, und sie müssen immer wieder erneuert und belebt werden, wenn sie für die Forschung wie für das praktische Leben fruchtbar sein sollen. In diesem Bemühen kann das Märchen zu einem wahren "Wasser des Lebens" werden.

 

(Übersetzt für das Sektionsjahrbuch 2002 von Douglas und Marguerite Miller; aktualisiert für die Website der Sektion von Bruce Donehower).

=== Endnoten ===

  1. Friedrich Hiebel, "Die Sektion für Schone Wissenschaften", in: Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht, Nr. 12 / 20. März 1966, S.5
  2. Mihály Fedics, zitiert von Karl Rauch (Hrsg.), Märchen der europäischen Völker, Bd. Polen, Slowakei, Ungarn, Heidelberg 1964.
  3. J. und W. Grimm, Deutsche Sagen, ausgewählt von P. Marker, Leipzig 1908.
  4. Max Lüthi, Märchen, Stuttgart 1962/1979.
  5. Vladimir Propp, Morphologie des Märchens, Frankfurt 1975.
  6. Heino Gehrts (Hrsg.), Schamanentum und Zaubermärchen, Kassel 1986.
  7. Rudolf Steiner, Anthroposophische Legtsätze, GA 26, Dornach 1954, S. 46
  8. J. und W. Grimm, Kinder- und Hausmärchen, hrsg. von Heinz Rölleke, Bd. 3, Stuttgart 1984, S. 421 und 417.
  9. Rudolf Steiner, Exkurse in das Gebiet des Markusevangeliums, Vortrag "Rosen- kreuzerisches Weistum in der Märchendichtung", GA 124, Dornach 1995, S. 207
  10. Rudolf Steiner, Anthroposophische Leitsätze, GA 26, Dornach 1954, S. 188ff.
  11. Ebd., S. 193
  12. Max Lüthi, Märchen. Stuttgart 1962/1979.
  13. Rudolf Steiner, Dze Mzsston der neuen Geistesoffenbarung, Vortrag vom 19. Dezember 1911, in: GA 127, Dornach 1975
  14. Siehe Fußnote 9.
  15. Siehe Fußnote 8.
  16. Siehe Fußnote 10, S. 46
  17. Ebd.

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Das Wasser des Lebens

Es war einmal ein König, der hatte eine Krankheit, und niemand glaubte, dass er sie mit dem Leben davonkommen würde. Er hatte drei Söhne, die darüber sehr betrübt waren und in den Palastgarten hinuntergingen und weinten. Dort trafen sie einen alten Mann, der sich nach dem Grund ihres Kummers erkundigte. Sie erzählten ihm, dass ihr Vater so krank sei, dass er mit Sicherheit sterben würde, denn nichts schien ihn heilen zu können. Da sagte der Alte: "Ich weiß noch ein Mittel, und das ist das Wasser des Lebens; wenn er davon trinkt, wird er wieder gesund werden; aber es ist schwer zu finden."

Der Älteste sagte: "Ich werde es schon finden", ging zum kranken König und bat darum, auf die Suche nach dem Wasser des Lebens gehen zu dürfen, denn nur das könne ihn retten. "Nein", sagte der König, "die Gefahr ist zu groß. Ich möchte lieber sterben." Aber der älteste Sohn bettelte so lange, bis der König einwilligte. Der Prinz dachte in seinem Herzen: "Wenn ich das Wasser bringe, dann werde ich von meinem Vater am meisten geliebt und werde das Königreich erben." So machte er sich auf den Weg, und als er eine kleine Strecke weitergeritten war, stand ein Zwerg auf der Straße, der ihm zurief: "He! Wohin willst du so schnell?"

"Dumme Krabbe", sagte der Prinz sehr hochmütig, "das geht dich nichts an", und ritt weiter.

Aber der kleine Zwerg war zornig geworden und wünschte sich etwas Böses. Bald darauf kam der Prinz in eine Schlucht, und je weiter er ritt, desto enger zogen sich die Berge zusammen, und schließlich wurde der Weg so eng, dass er keinen Schritt mehr weitergehen konnte; es war unmöglich, sein Pferd zu wenden oder vom Sattel abzusteigen, und er war dort eingeschlossen wie in einem Gefängnis. Der kranke König wartete lange auf ihn, aber er kam nicht.

Da sagte der zweite Sohn: "Vater, lass mich hinausgehen, um das Wasser zu suchen", und dachte bei sich: "Wenn mein Bruder tot ist, dann wird das Königreich an mich fallen." Zuerst wollte der König auch ihn nicht gehen lassen, aber schließlich gab er nach, und so machte sich der Prinz auf denselben Weg, den sein Bruder genommen hatte, und auch er traf den Zwerg, der ihn anhielt und fragte: "He! Wo willst du so schnell hin?"

"Kleine Krabbe", sagte der Prinz, "das geht dich nichts an!" Und er ritt weiter, ohne dem Zwerg einen weiteren Blick zu schenken. Aber der Zwerg verzauberte ihn, und er ritt wie der andere in eine Schlucht und konnte weder vorwärts noch rückwärts reiten. Das passiert mit hochmütigen Menschen!

Der jüngste Sohn bat darum, das Wasser holen zu dürfen, und der König war schließlich gezwungen, ihn gehen zu lassen. Als der junge Mann dem Zwerg begegnete und dieser ihn fragte, wohin er denn so eilig gehe, blieb der junge Mann stehen und gab dem Zwerg eine Erklärung. Er sagte: "Ich suche das Wasser des Lebens, denn mein Vater ist todkrank."

"Weißt du, wie man es findet?"

"Nein", sagte der Prinz.

"Nun", sagte der Zwerg, "da du dich so höflich verhalten hast - im Gegensatz zu deinen hochmütigen Brüdern - werde ich dir Auskunft geben und dir sagen, wie du das Wasser des Lebens bekommst. Es entspringt aus einem Brunnen im Hof eines verwunschenen Schlosses, aber du wirst nicht dorthin gelangen können, wenn ich dir nicht einen Eisenstab und zwei kleine Brote gebe. Schlage dreimal mit dem Stab auf die Eisentür des Schlosses, und sie wird sich öffnen. Im Inneren des Schlosses liegen zwei Löwen mit klaffenden Kiefern, aber wenn du jedem von ihnen ein Brot hinwirfst, werden sie sich beruhigen. Dann beeil dich, etwas vom Wasser des Lebens zu holen, bevor die Uhr zwölf schlägt, sonst wird die Tür wieder geschlossen und du wirst gefangen sein."

Der Prinz dankte ihm, nahm den Stab und das Brot und machte sich auf den Weg.

Als er ankam, war alles so, wie der Zwerg gesagt hatte. Beim dritten Schlag mit dem Zauberstab sprang die Tür auf, und nachdem er die Löwen mit dem Brot besänftigt hatte, betrat er das Schloss und kam in einen großen und prächtigen Saal, in dem verzauberte Prinzen saßen. Er nahm ihnen die Ringe von den Fingern. Dort lagen ein Schwert und ein Laib Brot, die er mitnahm. Danach ging er in ein Gemach, in dem er eine schöne Jungfrau fand, die sich freute, als sie ihn sah, ihn küsste und ihm sagte, dass er sie erlöst habe und dass er ihr ganzes Königreich haben solle, und dass, wenn er in einem Jahr wiederkäme, ihre Hochzeit gefeiert werden solle. Auch sagte sie ihm, wo die Quelle des Lebenswassers sei, und er solle sich beeilen und etwas davon schöpfen, bevor die Uhr zwölf schlage.

Dann ging er weiter und kam schließlich in ein Zimmer, in dem ein schön gemachtes Bett stand, und da er sehr müde war, wollte er sich ein wenig ausruhen. Also legte er sich hin und schlief ein. Als er aufwachte, schlug es viertel vor zwölf. Er sprang erschrocken auf, lief zur Quelle, schöpfte Wasser aus einem Becher, der in der Nähe stand, und eilte davon. Aber gerade als er durch die eiserne Tür ging, schlug die Uhr zwölf, und die Tür fiel mit solcher Gewalt zu, dass sie ein Stück seiner Ferse mitriss. Er freute sich jedoch, dass er das Wasser des Lebens erhalten hatte, und ging nach Hause, wo er wieder an dem Zwerg vorbeikam.

Als der Zwerg das Schwert und den Laib sah, sagte er: "Damit hast du großen Reichtum gewonnen; mit dem Schwert kannst du ganze Heere erschlagen, und das Brot wird nie zu Ende gehen."

Aber der Prinz wollte nicht ohne seine Brüder zu seinem Vater zurückkehren. Er sagte: "Lieber Zwerg, kannst du mir bitte sagen, wo meine beiden Brüder zu finden sind? Sie sind vor mir ausgezogen, um das Wasser des Lebens zu suchen, und sind nicht zurückgekehrt."

"Sie sind zwischen zwei Bergen gefangen", sagte der Zwerg. "Ich habe sie dazu verurteilt, dort zu bleiben, weil sie so hochmütig waren."

Da bettelte der Prinz, bis der Zwerg sie freiließ; aber er warnte ihn und sagte: "Hüte dich vor diesen beiden Brüdern! Sie haben ein schlechtes Herz."

Als seine Brüder kamen, freute sich der junge Mann und erzählte ihnen, wie es ihm ergangen war, dass er das Wasser des Lebens gefunden und einen Becher davon mitgebracht hatte, und dass er eine schöne Prinzessin gerettet hatte, die bereit war, ein Jahr auf ihn zu warten, und dann sollte ihre Hochzeit gefeiert werden und er würde ein großes Königreich erhalten.

Die drei ritten gemeinsam weiter, bis sie in ein Land kamen, in dem Krieg und Hunger herrschten, und der König glaubte schon, er müsse umkommen, weil der Mangel so groß war. Da ging der Prinz zum König und gab ihm das Brot, mit dem er sein ganzes Reich ernähren und satt machen konnte, und dann gab ihm der Prinz das Schwert, mit dem der König die Heerscharen seiner Feinde erschlug und nun in Ruhe und Frieden leben konnte. Daraufhin nahm der Prinz sein Brot und sein Schwert zurück, und die drei Brüder ritten weiter. Danach kamen sie in zwei weitere Länder, in denen Krieg und Hungersnot herrschten, und jedes Mal gab der Prinz den Königen seinen Laib und sein Schwert, und so befreite er auf diese Weise drei Königreiche.

Danach gingen sie an Bord eines Schiffes und segelten über das Meer. Während der Überfahrt unterhielten sich die beiden Ältesten und sagten: "Der Jüngste hat das Wasser des Lebens gefunden und nicht wir, denn unser Vater wird ihm das Reich geben, das uns gehört, und er wird uns all unser Vermögen rauben." Da begannen sie sich zu rächen und schmiedeten miteinander einen Plan, um den Jüngling zu vernichten. Sie warteten, bis sie ihn schlafend fanden, dann schütteten sie das Wasser des Lebens aus dem Becher und nahmen es für sich selbst, aber in den Becher gossen sie salziges Meerwasser. Als sie nun nach Hause kamen, brachte der Jüngste den Becher zu seinem Vater, dem kranken König, damit er daraus trinke und geheilt werde. Kaum aber hatte der König ein wenig von dem salzigen Meerwasser getrunken, da ging es ihm noch schlechter als zuvor. Und während er darüber klagte, kamen die beiden ältesten Brüder und beschuldigten den Jüngsten, ihn vergiften zu wollen, und sagten, sie hätten ihm das wahre Wasser des Lebens gebracht und reichten es ihm.

Kaum hatte der König davon gekostet, spürte er, wie seine Krankheit verschwand, und er wurde stark und gesund wie in den Tagen seiner Jugend. Danach gingen sie beide zu dem Jüngsten, verspotteten ihn und sagten: "Du hast zwar das Wasser des Lebens gefunden, aber du hast den Schmerz gehabt, und wir den Gewinn; du hättest schärfer sein und deine Augen offen halten sollen! Wir haben es dir weggenommen, als du auf dem Meer schliefst, und wenn ein Jahr um ist, wird einer von uns gehen und die schöne Prinzessin holen. Aber hüte dich davor, unserem Vater etwas davon zu verraten! Er traut dir nicht, und wenn du ein einziges Wort sagst, wirst du dein Leben verlieren, aber wenn du schweigst, sollst du es geschenkt bekommen."

Der alte König war wütend auf seinen jüngsten Sohn und dachte, er habe sich gegen sein Leben verschworen. Er rief den Hof zusammen und ließ über seinen Sohn das Urteil verkünden, dass er heimlich erschossen werden sollte. Als nun der Prinz zur Jagd ausritt und nichts Böses ahnte, ging auch der Jäger des Königs mit, und als die beiden ganz allein im Wald waren, sah der Jäger so traurig aus, dass der Prinz zu ihm sagte: "Lieber Jäger, was ist mit dir los?"

Der Jäger sagte: "Ich kann es dir nicht sagen, und doch sollte ich es!"

Da sagte der Fürst: "Sag offen, was es ist! Ich werde dir verzeihen!"

"Leider", sagte der Jäger, "muss ich dich erschießen. Der König hat es mir befohlen."

Da erschrak der Fürst und sagte: "Lieber Jäger, lass mich leben! Ich gebe dir meine königlichen Gewänder, gib mir stattdessen deine gewöhnlichen."

Der Jäger sagte: "Das will ich gerne tun! Ich hätte dich nämlich nicht erschießen können."

Dann tauschten sie ihre Kleider, und der Jäger kehrte nach Hause zurück. Der Prinz aber ging weiter in den Wald hinein. Nach einiger Zeit kamen drei Wagen mit Gold und Edelsteinen für seinen jüngsten Sohn zum König, die von den drei Königen geschickt worden waren, die ihre Feinde mit dem Schwert des Prinzen erschlagen und ihr Volk mit dem Brot des Prinzen ernährt hatten, und die sich dafür erkenntlich zeigen wollten.

Da dachte der alte König: "Kann mein Sohn unschuldig gewesen sein?" Er sagte zu seinem Volk: "Wäre er doch noch am Leben! Wie sehr schmerzt es mich, dass ich zugelassen habe, dass er getötet wurde!"

"Er lebt noch", sagte der Jäger. "Ich konnte es nicht übers Herz bringen, deinen Befehl auszuführen!"

Dann erzählte er dem König, wie es geschehen war, und dem König fiel ein Stein vom Herzen. Der König ließ es in allen Ländern verkünden, damit sein Sohn zurückkehre und wieder in Gunst genommen werde.

Die Fürstin aber ließ einen Weg zu ihrem Palast anlegen, der ganz hell und golden war, und sie sagte ihren Leuten, wer auf diesem Weg geradewegs zu ihr reite, sei der richtige Werber und solle eingelassen werden. Wer aber an der Seite ritt, war nicht der Richtige und durfte nicht eingelassen werden.

In dem anderen Königreich glaubte der älteste Sohn, dass nun die Zeit gekommen sei, zur Königstochter zu eilen und sich als ihr Erlöser auszugeben, um sie zur Braut zu nehmen und das Königreich zu gewinnen.

Als er vor dem Palast ankam und die prächtige goldene Straße sah, dachte er: "Es wäre eine Sünde, wenn er darüber reiten würde: "Es wäre eine Sünde und eine Schande, wenn er darüber reiten würde!" Und so wandte er sich zur Seite und ritt auf der rechten Seite der Straße. Als er aber an die Tür kam, sagten ihm die Diener, dass er nicht der Richtige sei und dass er wieder weggehen solle.

Bald darauf machte sich der zweite Prinz auf den Weg, und als er an den goldenen Weg kam, dachte er: "Es wäre eine Sünde und eine Schande, wenn er darüber reiten würde!" Und auch er wandte sich ab und ritt auf der linken Seite, und als er an die Tür kam, sagten ihm die Diener, dass er nicht der Richtige sei und dass er wieder weggehen solle.

Als endlich das Jahr ganz verstrichen war, wollte auch der dritte Sohn aus dem Wald zu seiner Geliebten reiten. Er machte sich also auf den Weg und dachte so oft an sie und wünschte sich so sehr, bei ihr zu sein, dass er die goldene Straße gar nicht bemerkte. Als er an die Tür kam, wurde sie geöffnet, und die Prinzessin empfing ihn mit Freude und sagte, er sei ihr Erlöser und Herr des Königreichs, und ihre Hochzeit wurde mit großem Jubel gefeiert. Als sie zu Ende war, sagte sie ihm, dass sein Vater ihm verziehen habe und ihn willkommen heiße, nach Hause zu kommen. So ritt er nach Hause und erzählte seinem Vater, dem König, was geschehen war - wie seine Brüder ihn verraten hatten und wie er dennoch darüber geschwiegen hatte.

Der alte König wollte die beiden Söhne bestrafen, aber sie waren zur See gefahren und kamen nie wieder zurück, solange sie lebten.

 

02.28.24