"Flucht nach Ägypten" / Giotto
"Dante und Giotto: Ein Gespräch"
von Albert Steffen
Das schönste Beispiel dafür, wie ein Dichter und ein Maler, die sich in Wort und Bild ergänzen, voneinander lernen können, ist vielleicht das von Dante und Giotto. Eine Begegnung zwischen den beiden, deren Möglichkeit sich der geistigen Erfahrung des Trecento erschließt, mag eine Illustration liefern.
Dante besuchte seinen Freund Giotto in Padua, um dessen gerade fertiggestellte Fresken zu sehen. Der Maler führte den Dichter von Bild zu Bild. Er ließ die Abfolge der Bilder für sich selbst sprechen. Zuerst das Leben der Mutter Gottes, dann das Leben des Gottessohnes. Dann wandte er sich wieder der Eingangswand zu, dem Jüngsten Gericht und dem Welterlöser. Schließlich zeigte er ihm die Wege der Erdenkinder, ihre Tugenden und Laster.
Dante sah alles und vermisste nichts - keinen Stern auf den Gewölbebögen, kein architektonisches Ornament, keine Ranke oder Rosette, die als Verzierung dazwischen lag.
"Du malst, was ich nicht in Poesie fassen kann", sagte er - worauf Giotto antwortete: "Und doch gehen wir beide denselben Weg. Ich verwende die Sectio aurea, den goldenen Schnitt, in der Komposition meiner Gemälde und du in der Konstruktion von Sonetten." Und er wies mit einer Geste auf die Linie vom Kopf zum Herzen und vom Herzen zum Fuß, und dann auf das Verhältnis des oberen Abschnitts zum unteren und des unteren zur ganzen Linie. Und er zeigte, wie der Weg nach oben auf den Tod, der Weg nach unten auf die Geburt und das Ganze auf den Lebensweg dazwischen verweist.
"Aber was Sie in Ihrer Terza rima zum Ausdruck bringen", fügte er hinzu, "reicht darüber hinaus bis ins Inferno, Purgatorio und Paradiso."
Sie waren in die Mitte der Kapelle gekommen und schauten nach links zu den Tugenden und nach rechts zu den Lastern.
"Die Dummheit ist das letzte Thema, das ich gemalt habe", sagte Giotto zum Abschluss der Führung.
Dante betrachtete eine Figur nach der anderen. "Sie sind gut erdacht", sagte er. "Der Hoffnung gegenüber, die eine Krone trägt, steht die Verzweiflung, die eine Schnur um den Hals geschlungen hat. Die Nächstenliebe, mit Früchten und Blumen, die ihr der Himmel schenkt, der Neid, aus dessen Mund eine Schlange hängt. Wankelmütigkeit, Untreue, Falschheit, Zorn - alles genau dargestellt. Nach diesen Urbildern kann das Menschengeschlecht wahrhaftiger beurteilt werden als nach dem Nominalismus der florentinischen Gerichte . . ."
"Du denkst immer noch zu sehr an deine Verbannung", unterbrach ihn Giotto. "Sei dankbar, dass du jetzt Zeit hast, dein Gedicht zu vollenden, anstatt dich zwischen den politischen Parteien herumzuschlagen."
"Der 'ungerechte Richter'", antwortete Dante mit einem grimmigen Lachen, "wurde für heilig erklärt, aber der Thron, auf dem er sitzt, steht schief. Ich werde seinen Sturz abwarten. Aber wozu die doppelte Darstellung der Dummheit? Verwendest du nicht zu viel Sorgfalt auf sie?"
"Die Dummheit", antwortete Giotto, der gerne scherzte, "muss nicht nur von außen, sondern auch von innen besiegt werden. Sie verblüfft alle Menschen und auch sich selbst. Sie existiert in einer Doppelzüngigkeit der Zweifel. Sie wird umso dümmer, je verruchter sie erscheint. Sie bläst sich auf und bläht sich auf. Wenn sie mit ihrer Keule ausholt, kann die ganze Welt untergehen."
"Das habe ich erlebt", sagte Dante, "Welt- und Selbstverdummung ist die Devise für heute. Aber nicht mehr davon. Durch Disputieren kommen wir nicht weiter. Wenden wir uns den ewigen Aufgaben der Malerei und der Poesie zu. Warum bist du im höchsten Sinne ein Maler und ich ein Dichter geworden?"
Aus dieser Frage entwickelte sich ein paradigmatisches Gespräch.
Giotto: Die Malerei ist die treueste Dienerin des Schöpfers. Denn sie ist in der Lage, allen Menschen zu vermitteln, was die Vorsehung für die Menschheit vorgesehen hat. Sie kann dies auch für diejenigen sichtbar machen, die keine höheren Fähigkeiten besitzen.
Dante: Aber um die Erkenntnisse begreifbar zu machen, muss man das Bild in Worte übersetzen - und deshalb gilt die Poesie als höchste Kunst.
Giotto: Ihr Gedicht erreicht seinen Höhepunkt genau dort, wo es zur Malerei wird: im Purgatorio. Der geläuterte Mensch kann sich sowohl nach oben als auch nach unten bewegen und sich entsprechend seiner Freiheit verwandeln.
Dante: Aber es ist doch viel üblicher, in der Hölle festzusitzen!
Giotto: In deinem Gedicht kommen die bösen Menschen gewiss nicht voran. Wer aber kann als gut bezeichnet werden? Im Gefängnis der Vergangenheit sind die Verbrecher unwiederbringlich verloren. Denn dort, in den Höhlen der Hölle, wirkt dein mächtiges Wort wie in Form gemeißelt. Seine Konturen begrenzen die Sünder. Der Tod ist der größte Bildhauer. Der Dichter sollte nicht nur die Seelen aus diesen Kerkern durch reinigende Flammen in die Freiheit führen, sondern auch die starre Form in die Freigabe der Farbe umwandeln.
Dante: Das ist in der Tat meine Absicht. Das ist die Bedeutung meiner Trilogie. Die Skulptur der Unterwelt wird zum Gemälde des Hügels des Fegefeuers, dessen Farbschattierungen schließlich zu den himmlischen Gesängen der Hierarchien führen.
Giotto: Im Paradies hingegen wird man von der Unsichtbarkeit der Musik eingeholt. Hier folgt dir niemand mehr, außer den Seligen. Und sie hören nicht, wie die Verdammten in der Hölle um Hilfe schreien.
Dante: Das Wort reicht so weit wie der kristalline Himmel. Dort scheint er sich in die Lüfte zu erheben. Doch das ist nicht der Fall. Denn es ist in der Tat Mensch geworden, und als Mensch hat es eine Form angenommen.
Giotto: Es ist wahr, Christus ist auferstanden, aber er wird nie wieder in einem Körper wiedergeboren werden.
Dante: Die Toten versammeln sich um seine himmlische Gestalt und warten auf ihre Wiederauferstehung.
Giotto: Sie werden dem Jüngsten Gericht unterzogen, entweder als gute Seelen, die sich mit ihm vereinigen, oder als schlechte Seelen, die von ihm abgefallen sind...
Dante: Und wenn es ein Böses gibt, von dem niemand weiß, dass es existiert, aber von dem jeder Mensch in die Irre geführt werden kann?
Giotto: Davor werde ich mich durch meine Malerei schützen.
Dante: Und ich durch meine Poesie.
Giotto: Sind Sie mit Ihrer Arbeit zufrieden?
Dante: Genauso wenig wie du mit deinem, obwohl ich weiß, dass niemand dich oder mich als Künstler übertrifft.
Das war das letzte Gespräch zwischen den beiden Freunden. Nach dem Tod der beiden wurde es fortgesetzt. Dann aber wurde klar, dass ihre Kunst sehr viel stärkere Auswirkungen hatte als im Leben.
Wenn der eine von der Poesie und der andere von der Malerei sprach, war es nun ein gegenseitiger Austausch. Denn der eine erfüllte die Seele des anderen, so dass eine gegenseitige Selbstausschüttung entstand. Der eine war Baumeister des anderen. Es geschah, dass sie eigentlich nicht mehr Worte oder Bilder austauschten, sondern selbst zu Wortbildern wurden, und diese prägten sie sich gegenseitig auf. Jeder war zu einer Hieroglyphe geworden, die der andere zu entziffern hatte. Jeder von ihnen verwandelte sich in die Sprachlaute - Vokal oder Konsonant - eines Wortes, in die Worte eines Satzes, in einen Satz einer Geschichte, die sie - jeder für sich, doch beide als Einheit - den göttlichen Hierarchien erzählten.
Und Dante sagte zu Giotto: "Du bist jetzt selbst mein Gedicht".
Und Giotto zu Dante: "Und du bist mein Bild".
Und im Vergleich mit den Gnaden der Hingabe erkannten sie, wie unvollkommen sie beide gewesen waren. Denn sie maßen sich nun an der unermesslich hohen Stellung des Auferstandenen, dessen Bild sie auf Erden zu schaffen sich bemüht hatten - in Wort und Bild.
Nun mussten sie im Kosmos den Weg vom Kopf zum Herzen des himmlischen Menschen und vom Herzen zu den Füßen gehen. Hin und zurück, mit all den Wunden, die ihnen die irdischen Menschen zugefügt hatten.
Dazu waren sie dort oben jedoch nicht in der Lage.
Deshalb wollten sie wieder hinabsteigen, zurückkehren, um die Last der Leiden des menschlichen Ichs zu teilen.
Aufsatz übersetzt von Virginia Brett
12.10.24