"Der krönende Abschluss der Karmastudien" von Friedrich Hiebel

"Persona" / Foto: Bruce Donehower

 

"Das Geheimnis von Platon und Aristoteles"

" Die Bedeutung der Freundschaft kann nicht überschätzt werden. "

 

- Christoph Lindenberg, von Rudolf Steiner, Eine Biographie, Bd. 1, Kapitel 3

Ostern, 2024

Liebe Freunde,

Dieser Artikel von Friedrich Hiebel erschien als Kapitel 27 in dem Buch Zeit der Entscheidung mit Rudolf Steiner (Anthroposophischer Verlag, 1989). Dr. Hiebel, der in den Jahren nach Albert Steffen die Sektion für Geisteswissenschaft leitete, schildert in diesem Kapitel seine Eindrücke von seinen letzten Begegnungen mit Rudolf Steiner im September 1924. Das Buch von Dr. Hiebel ist ein wichtiges Dokument für alle, die sich für die Geschichte der Sektion für Geisteswissenschaften interessieren. Seine Ausführungen beleuchten auch Rudolf Steiners Biographie und Rudolf Steiners Ansatz zur Karmaforschung. 

 

Der krönende Abschluss der Karmastudien [23. September 1924] . . . 

fiel mit dem Ende des Schauspielkurses zusammen, was selbst eine karmageprägte Tatsache war. Sie trug dazu bei, zu enthüllen, was karmisch gesehen hinter dem Schauspielkurs [5. bis 23. September 1924] und der Schauspielkunst stand. Auf wunderbare Art und Weise verstärkt, stand eine erneuerte Mysterienkunst der Bühne vor uns, die aus dem alten Geist der Poetik des Aristoteles erwachsen war. Das Ergebnis eines lebenslangen bewussten Ringens um Erkenntnis kam in einer einzigen Abendstunde in den Sätzen dieses Vortrags zum Ausdruck. Ist es nicht möglich, dass das Erinnerungsbild vergangener karmischer Zusammenhänge schon bei der Begegnung mit Schröer am Abend der Katastrophe in Mayerling 1889 entstanden sein könnte? [Fußnote 1]

Auf jeden Fall, die Verbindung mit der Schröerschen Entelechie wurde nach Schröers Tod fortgesetzt und verstärkt am 16. Dezember 1900. Rudolf Steiner wies ausdrücklich darauf hin, dass die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstorbenen Toten einen stärkeren Einfluss auf die Lebenden ausübten, als es die Toten je zuvor getan hatten. Auffallend deutlich wurde dies, als im Michaelijahr 1900 in der theosophischen Bibliothek des Grafen Brockdorff in Berlin die ersten Vorträge zu einem rein geisteswissenschaftlichen Thema gehalten wurden. Das war kurz nachdem Nietzsche und Solovyov das irdische Reich verlassen hatten. Nachdem er seine Gedanken über die karmischen Verhältnisse dieser beiden Denker dargelegt hatte, wurde Schröer nun die letzte Ehre erwiesen, indem er die bewegendsten Offenbarungen seines tragischen Schicksals vortrug.

 

Aristoteles und das Mysteriendrama

Im Jahre 1904 veröffentlichte die Zeitschrift Luzifer-Gnosis den einzigen Artikel Rudolf Steiners, der unter dem Pseudonym "Dr. K. Tinter" erschien. Es war der Aufsatz "Aristoteles über das Mysteriendrama". und in den Anfangsjahren der geisteswissenschaftlichen Bewegung erschien es klug, direkte Aussagen, die sich so unmittelbar auf Aristoteles bezogen, unter einem Pseudonym zu verbergen. Nach Aristoteles - so konnte man in jenem Aufsatz lesen, der genau zwanzig Jahre vor dem Drama-Kurs veröffentlicht wurde - ist das Drama:

". . wahrhaftiger als eine bloße historische Beschreibung. Während letztere lediglich erzählt, was sich im Laufe der Zeit zufällig ereignet, beschreibt erstere die menschlichen Handlungen so, wie sie sein sollen und müssen, basierend auf inneren Motivationen . . . Aristoteles beschreibt die Tragödie als die Darstellung einer bedeutenden, in sich abgeschlossenen Handlung, die nicht in Form einer Erzählung, sondern durch die unmittelbare Darstellung der handelnden Personen wiedergegeben wird. Er behauptet, dass in einer solchen Darstellung durch Mitleid und Furcht eine Katharsis (Läuterung) solcher Gefühle (Affekte) bewirkt wird."

Nachdem Steiner die historische Entwicklung dieses berühmten Satzes aus der Poetik des Aristoteles erörtert hatte, wies er in diesem frühen Aufsatz darauf hin, dass Aristoteles glaubte, dass es das Ziel der Tragödie sei, "ihren Teil zum Entwicklungsprozess der menschlichen Seele beizutragen". denn sie ist aus den Mysterien hervorgegangen, die das Schicksal des Dionysos schildern.

Die Beschreibung der kathartischen Wirkung des Dramas in der Poetik des Aristoteles erscheint wie folgt

"die schwache Widerspiegelung dessen, wie ein griechischer Mysterienpriester die ursprüngliche Form des Dramas erklärt hätte".

Sechs Jahre später fand die erste Aufführung des ersten Mysteriendramas statt. In einem Vortrag am 31. Oktober 1910 sagte Rudolf Steiner, dass "die Figur des Professor Capesius das mir so am Herzen liegt" aus dem wirklichen Leben gegriffen war. [Fußnote 2] Im selben Jahr begannen die Aufführungen der Weihnachtsspiele. Bei diesen Gelegenheiten wurde Karl Julius Schröer stets in dankbarer Erinnerung behalten.

 

Die Rätsel des Karmas und der Persönlichkeit

In Steiners Buch Das Rätsel des MenschenDas Kapitel "Bilder aus dem österreichischen Geistesleben" beginnt mit Schröer:

"Aus diesem Manne sprach ein Geist, der nur das mitteilen wollte, was ihm durch die Betrachtung des kulturellen Lebens zur tiefsten Selbsterfahrung seiner Seele geworden war."

Im Gegensatz zu Hegel, der die bekannte Bemerkung, dass die Philosophie erst am Ende einer kulturellen Entwicklung entsteht, mit dem Bild der Eule der Minerva, die erst mit Beginn der Dämmerung fliegt, ergänzte Steiner nun im Konjunktiv:

"Schröer hätte [im Gegensatz zu Hegel] eher von einem menschlichen Geist gesprochen, der dem Licht zustrebt - einem Geist, der in der Welt der Ideen die Sonne jenes Reiches sucht, in dem die menschliche Vernunft, die erdwärts auf die Welt der Materialität gerichtet ist, das Erlöschen ihres eigenen Lichtes der Erkenntnis spürt. Vor einer Aufführung eines Weihnachtsspiels im Ersten Goetheanum am 22. Dezember 1920 machte Rudolf Steiner einen bedeutsamen Hinweis auf die Dionysos-Spiele. Er sagte, sie hätten in Griechenland die ganze dramatische Kunst hervorgebracht, so wie jetzt die [Oberufer-]Weihnachtsspiele auf ihren Ursprung in den christlichen Mysterien zurückgeführt werden können."

Auch am Weihnachtstag der Grundsteinlegung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im Jahre 1923 versäumte Rudolf Steiner nicht, vor der Aufführung des Krippenspiels an Schröer zu erinnern. Wiederum wurde darauf hingewiesen, dass die Struktur dieser Weihnachtsspiele "an das Drama des Altertums erinnert". Während der Aufführung des Dreikönigsspiels am 31. Dezember 1923, Steiner machte uns auf einen "unverständlichen Irrtum meines alten Freundes und Lehrers" aufmerksam. denn es sei falsch gewesen, das Hirtenspiel mit dem Dreikönigsspiel zu verbinden, da letzteres nicht direkt aus dem Volk stamme, sondern mit Hilfe gelehrter Kleriker geschaffen worden sei.

Gleichzeitig mit dem Beginn der Karma-Vorträge, der Herausgabe der wöchentlich erscheinenden Leitgedanken und dem Beginn der Klassenstunden der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft nahm Steiner Woche für Woche Erinnerungen an Schröer in die Kapitel von Der Verlauf meines Lebens. Am 3. Februar konnten wir lesen, dass er sei ein Geist gewesen, "der nichts von Systematik hielt. Er dachte und sprach aus einer gewissen Intuition heraus". Am 24. Februar erfuhren die Leser der Wochenzeitung, wie Schröer "mit seinem wunderbaren Idealismus und seiner edlen Begeisterung" die Seelen seiner Zuhörer zu erheben vermochte.

 

"Mein lieber Freund und Lehrer"

Am 9. März [1880] wurde die erste persönliche Begegnung zwischen Schröer und dem jungen Studenten berichtet. Schröer arbeitete zu dieser Zeit an dem Kommentar zum zweiten Teil von Goethes Faust. Eine wichtige Passage, die für das Verständnis des karmischen Unterschieds von Bedeutung ist, wurde wie folgt formuliert:

"Er [Schröer] bezeichnete Ideen als die treibenden Kräfte der Geschichte. Er spürte das Leben in der Existenz der Ideen. Für mich war das Leben des Geistes hinter den Ideen, und die letzteren nur die Erscheinung der ersteren in der menschlichen Seele."

Am 16. März wird in der autobiographischen Beschreibung liebevoll auf Schröers Büchlein "Erziehungsfragen" verwiesen, und in der folgenden Ausgabe des Goetheanum vom 30. März berichtet Rudolf Steiner ausführlich über die Absprachen, die zu die Veröffentlichung von Goethes wissenschaftlichen Schriften in Kürschners Deutscher Nationalliteratur durch die Vermittlung Schröers.

In den vorangegangenen Karmavorträgen wurde immer wieder auf Persönlichkeiten hingewiesen, die in Rudolf Steiners Jugend eine gewisse karmische Bedeutung hatten. Unter anderem wurden neben Vischer, Hartmann, Dühring, Herman Grimm und NietzscheIn diesen Vorträgen wurden wir mit Steiners Geometrie-Lehrer in Neudörfl, Heinrich Gangl, bekannt gemacht. Eine Betrachtung von Schröer, der ausnahmslos immer wieder als "mein lieber Freund und Lehrer" bezeichnet wurde, schien daher mehr als überfällig zu sein.

Ich war freudig überrascht, als ich sah Walter Johannes Stein vor diesem Abendvortrag, für den er extra aus Stuttgart angereist war. Wahrscheinlich war er auf Bitten des Leiters der Waldorfschule für diesen Tag vom Unterricht entschuldigt worden, denn wir sahen ihn anschließend vor dem Eingang zum Atelier in ein Gespräch mit Rudolf Steiner vertieft.

 

Die Mysterien des Dionysius

Im Zentrum der letzten Karma-Perspektive stand eine Persönlichkeit, die auf höchst problematische Weise in die Entwicklungsgeschichte des abendländischen Theaters eingegriffen hatte. Doch dieser Zusammenhang wurde im Vortrag selbst gar nicht erwähnt. In dem an Schauspieler gerichteten Kurs wurde die Aufmerksamkeit speziell auf die Mysterien des Dionysos gelenkt, aus denen später das Drama hervorgegangen war. Am Ursprung des Dramas stand die impulsgebende Figur, die im Mythos des jungen Dionysos verewigt wurde und seine Reise in den Orient zusammen mit dem begleitenden Chor der Sileni und Satyrn. Der mythologische Träger der Weinkultur wurde durch den allmählich erwachenden Intellekt zum Wegbereiter des Individualismus. Der Weinkonsum trug damals dazu bei, die eng begrenzenden Blutsbande der Stammesgruppen und Familienbande zu lockern. Gleichzeitig stimulierte diese Figur die Tendenz zum Dialog. Die Dialektik in der Philosophie und der Dialog im Drama gehen auf den Kult des Dionysos zurück.

Auch Platon steht in dieser Mysterien-Genealogie. Er wurde der Dramatiker der Dialektik. Nachdem er seine eigenen, in jungen Jahren geschriebenen Dramenversuche verbrannt hatte, schrieb Platon seine Werke in Form von philosophischen Dialogen nieder, in deren Mittelpunkt die Figur des Sokrates stand. So wie die dionysischen Mysterien eine Lehre entwickelt hatten, die den Impuls zum Individualismus zum Keimen brachte, so öffneten Platons Dialoge das Tor zu einer Denkmethode, die zur Selbsterkenntnis führte.

Doch hier herrschte das unheilvolle Hindernis einer erkenntnistheoretischen Lehre von zwei WeltenEin Dualismus, der die Sinneswelt, die vom Reich der Ideen getrennt ist, zur Illusion erklärt und dem Menschen die Fähigkeit abspricht, die wahre Wirklichkeit während seines Lebens auf der Erde zu erkennen. Von allen Dialogen kommt diese dualistische Theorie am deutlichsten in Platons Republik und in der berühmten Allegorie der Höhle im siebten Buch. Platon entwarf das folgende Bild für den Prozess der menschlichen Wahrnehmung. Man stelle sich eine höhlenartige Behausung unter der Erde vor, deren Eingang zu einer Lichtquelle offen zu sein scheint. Die Menschen sitzen mit Ketten an Füßen und Hals unbeweglich; sie können geradeaus schauen, aber ihren Kopf weder nach links noch nach rechts drehen. Das Licht kommt von einem Feuer, das hinter ihrem Rücken brennt und das sie wegen der Ketten nicht direkt sehen können. Zwischen dem Feuer und den angeketteten Menschen steht eine Mauer. Die Angeketteten sehen nur die Schatten der Figuren, die das Feuer auf die Oberfläche der Wand wirft. Sie nehmen nichts anderes wahr als die Schatten der Figuren, die sich vor der Lichtquelle, nämlich dem Feuer, bewegen.

Aufgrund dieser erkenntnistheoretischen Voraussetzungen war der Handwerker [Dichter] für Platon lediglich der Produzent von Produkten, die der Welt des Scheins angehören, der Dichter nur ein Nachahmer dieses Scheins. Das Theater als Schein dieser Scheinwelt wurde daher aus dem platonischen Staat verbannt. Dramatische Chöre erweckten Gefühle der Freude und des Schmerzes. Diese wurden nicht geduldet, weil sie verhinderten, dass die Vernunft die alleinige Herrschaft über die Seele erhielt. Das Mysterienelement der Katharsis, auf das Aristoteles' Poetik die Aufmerksamkeit auf so kulturbewegende Weise auf sich zog, wurde in Platons Werk nicht berücksichtigt. Die läuternde Wirkung des Dramas, die bei Aristoteles als "Widerspiegelung dessen, wie ein griechischer Mysterienpriester die ursprüngliche Form des Dramas erklärt hätte" erscheint, hatte im platonischen Staat keinen Platz.

So wie die platonische Ideenlehre in den Karmastudien charakterisiert wurde, die sich mit Hölderlin und Hamerling, nämlich, dass "der Mensch zu kurz kam", weil "die lebendige Idee in jeder menschlichen Individualität aufgespürt werden muss" im Sinne des aristotelischen Begriffs der Entelechie, so dass Platon die Wirkung im Theater, die das menschliche Ich formt und entwickelt, völlig übersah. Im Einklang mit Platons Ideenlehre war der Idealstaat, der das Theater ausschloss, bekanntlich eine betont einseitige Männergemeinschaft von subtiler Erotik, die ein rein männliches Bildungsideal pflegte.

 

Hrosvitha von Gandersheim / Ein verkappter Dramatiker

Dieselbe geistige Essenz dieses mächtigen Impulses versuchte, sich zu verwandeln unter dem Nonnenschleier der Hrosvitha von Gandersheim. Inmitten einer noch völlig barbarischen germanischen Welt versuchte sie, das Drama in der von christlichen Idealen durchdrungenen lateinischen Sprache vor der Dekadenz des römischen Theaters zu retten. Ein Versuch, der über die Jahrhunderte wie in einer Katakombe verborgen blieb, bis er schließlich in der Neuzeit seinen Platz in der Kulturgeschichte fand. Die Persönlichkeit, auf die sich der Karma-Vortrag konzentrierte, war Karl Julius Schröer, der, untrennbar mit den Weihnachtsspielen verbunden, von Rudolf Steiner zeitlebens sein "lieber Freund und verehrter Lehrer" genannt wurde.

Die Oberufer Weihnachtsspiele standen an der Wiege des modernen Dramas. Neben seinen Forschungen zu deutschen Dialekten, Schröers Einleitung zu Goethes Dramen in Kürschners Deutscher Nationalliteratur und seinem umfassenden Kommentar zu beiden Teilen von Faustdie beide im Zentrum seiner Forschungsbemühungen standen, standen in engstem karmischen Zusammenhang mit der Entwicklungsgeschichte des Dramas. Als Steiner als achtzehnjähriger Student an die Technische Hochschule [1879] ging, fand er in Schröer seinen Goethe-Lehrer. Durch ihn wurde Steiner zum ersten Mal auf Goethes Fairy Talezu Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehungund zum zweiten Teil von Faust. Durch Schröer wurde die Veröffentlichung von Goethes wissenschaftlichen Schriften schicksalhaft geordnet und die erste geisteswissenschaftliche Vorlesung mit dem Titel "Goethe als Begründer einer neuen Ästhetik" vor dem Wiener Goetheverein gehalten.

Drei Mal sieben Jahre später, all dies sollte in Rudolf Steiner als Form seines eigenen Mysteriendramas reifen. In der Gestalt von Professor Capesius hat Steiner einige charakteristische Züge Schröers idealisiert. Gerade darauf machte Steiner in seinem Vortrag unmittelbar vor der Passage aufmerksam, die zur wohl innersten Wesensgrundlage dieser Karma-Offenbarung führte, indem er Schröer als "ein bemerkenswertes Beispiel dafür bezeichnete, dass die geistigen Strömungen des Altertums nur unter bestimmten Bedingungen in die Gegenwart hinübergetragen werden können." Welches sind die Bedingungen, unter denen die geistigen Strömungen des Altertums in veränderter Form eine geistige Wiederauferstehung im modernen Kulturleben erfahren können?

 

Die Tragödie von Schröer / Ein tragischer Abschied

Schröer ist ein tragisches Beispiel dafür, wie die früher entwickelte Spiritualität vor der modernen Intellektualität zurückschreckt statt sie zu durchdringen, indem sie sich mit ihr vereinigt. Eine solche Durchdringung kann nicht durch den dualistischen Platonismus erreicht werden, sondern nur durch das aristotelische Seelenvermögen, das die ideale Welt innerhalb der Entelechie in einem geistigen Monismus erfahrbar macht.
In dem Maße, wie dies dargestellt wurde, erreichte die Karmaforschung den höchstmöglichen Grad der Selbstoffenbarung über Rudolf Steiners eigenen Schicksalsweg.

Bei Schröer wurde der Rückzug vor der Intellektualität charakteristisch deutlich. Hätte er die Intellektualität erreicht, hätte er sie mit der Spiritualität Platons vereinen können, wäre die Anthroposophie da gewesen.

Das Bewegendste an diesem Abend, der uns alle zutiefst erschütterte, war die Selbstbeschreibung und das autobiografische Element, das in einer höheren Vision des Schicksals deutlich wurde. Im Rahmen seiner Karmastudien, Rudolf Steiner sprach von sich selbst mit einer so unverstellten Direktheit wie nie zuvor. Konnte überhaupt ein weiterer Schritt unternommen werden? Bedeutete dies nicht einen endgültigen und letzten Ausdruck des Abschieds? Musste er, wenn er von uns gehen wollte, den Mächten des Schicksals nachgeben und sein körperliches Werkzeug auf der Erde ablegen? Am Ende dieser Stunde überkam mich das Gefühl einer unerschütterlichen Beklemmung. Es stellte sich genauso plötzlich ein wie damals, als ich zwei Wochen vor der Weihnachtstagung in Wien das erste Kapitel von Steiners Autobiographie gelesen hatte. Diesmal verstärkte sich das Gefühl durch die zeitliche Nähe der soeben gehörten Worte und die Erinnerung an seine Schwierigkeit, mittags während des Schauspielkurses an das Rednerpult zu treten!

Viele fröhliche Rufe von "Auf Wiedersehen!" waren aus der Menge der Abreisenden zu hören. Wir sehen uns im Oktober in Berlin! Auch ich dachte sofort an die geplante Woche des Jugendkurses für uns Pädagogen. Schnell verdrängte ich meine Vorahnung. Wir waren alle weit über uns selbst hinausgewachsen. Wir fühlten uns glücklich und dankbar, untrennbar und enger als in all den Jahren zuvor mit den Geschicken der geistigen Bewegung verbunden zu sein.

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Fußnoten der Redaktion

1  "Die Katastrophe in Meyerling".

Dieses interessante und immer noch rätselhafte historische Ereignis ist aus literarischer Sicht recht provokant. Friedrich Hiebel bezieht sich auf eine Begegnung, die Rudolf Steiner mit seinem älteren Freund und Mentor Karl Julius Schröer hatte, kurz nachdem bekannt geworden war, dass Kronprinz Rudolf, der einzige habsburgische Erbe der österreichisch-ungarischen Monarchie, zusammen mit seiner Geliebten in einem königlichen Jagdschloss namens Mayerling [oder manchmal Meyerling] tot aufgefunden worden war. Obwohl man damals von "Doppelselbstmord" in Anlehnung an Wagners Tristan und Isolde oder Shakespeares Romeo und Julia (Die Affäre blieb bis 2015 ein Rätsel, als ein Bankschließfach in Wien geöffnet wurde und private Briefe enthielt, die offenbar von der siebzehnjährigen Geliebten des Kronprinzen geschrieben worden waren. Diese Briefe bestätigten nachdrücklich die Theorie, dass sich die beiden in einem Liebespakt zum Selbstmord verschworen hatten. Die "Meyerling-Katastrophe" ereignete sich im Januar 1889.

Der Tod von Kronprinz Rudolf schockierte und skandalisierte die Bürger der österreichisch-ungarischen MonarchieJahrhunderts, einer Welt, deren Politik auf fatale und tragische Weise mit dem Karma privilegierter monarchischer Familien verflochten war. Der Tod von Kronprinz Rudolf brachte die Thronfolge der Habsburger ins Wanken, denn Prinz Rudolf war der einzige männliche Erbe von Kaiser Franz Josef. Einige Historiker spekulieren, dass der Tod von Prinz Rudolf indirekt zu den Ereignissen beigetragen hat, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten, der wiederum unmittelbar nach dem Krieg zum völligen Zusammenbruch und zur Auflösung des österreichisch-ungarischen Reichs führte.

Es ist wichtig zu wissen, dass Rudolf Steiner in Österreich-Ungarn geboren wurde. und dass seine frühen Lebensumstände und jugendlichen Ambitionen ihn wie viele seiner Zeitgenossen in die Reichshauptstadt Wien führten. Rudolf Steiner schrieb sich 1879 an der Technischen Hochschule in Wien ein und lernte dort Karl Julius Schröer kennen, der für sein Schicksal eine so wichtige Rolle spielte. (Mehr über die wichtige geistige Freundschaft zwischen Steiner und Schröer erfahren Sie im Video Geistige Freundschaft).

Um die Auswirkungen der "Meryerling-Katastrophe" zu verstehen, sollten Man darf nicht vergessen, dass Rudolf Steiner in einem sehr realen historischen Sinn den Zerfall und den völligen Zusammenbruch seines österreichisch-ungarischen Heimatlandes miterlebt hat. Dieser Zusammenbruch erfolgte aufgrund des Ersten Weltkriegs, einer Katastrophe, an der die Habsburger Monarchie eine große Schuld trug. Rudolf Steiner kritisierte später den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson heftig dafür, dass er durch seinen Einfluss bei den Friedensvertragsverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg die Katastrophe des Zusammenbruchs des Kaiserreichs beschleunigt habe; allerdings war das Kaiserreich nach Ansicht Deutschlands, des wichtigsten militärischen Verbündeten des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg, bereits eine "Leiche".

Rudolf Steiner verwies auf das "schreckliche Ereignis" des Todes von Kronprinz Rudolf in einem Vortrag in der Reihe "Karmische Beziehungen" am 27. Mai 1924, in dem er über den römischen Kaiser Nero sprach. Rudolf Steiner hatte bereits in früheren Vorträgen von Nero gesprochen und ihn in einem Vortrag am 17. April 1917 als "eingeweihten Kaiser" bezeichnet, der die Welt in Brand setzen wollte, "um deren Vernichtung persönlich mitzuerleben". In dem späteren Vortrag aus der Reihe Karmische Beziehungen, den Friedrich Hiebel in seinem Aufsatz erwähnte, tritt Nero in die Diskussion im Zusammenhang mit Rudolf Steiners Betrachtung seiner engen Freundschaft mit Karl Julius Schröer in Wien im 19.

"Dass mir dieses Nero-Schicksal einmal lebhaft vor Augen stand, war auf einen scheinbaren Zufall zurückzuführen - aber es war nur ein scheinbarer Zufall. Eines Tages, als ein schreckliches Ereignis eingetreten warEin Ereignis, von dem ich gleich sprechen werde und das die ganze Region erschütterte [der Selbstmord von Kronprinz Rudolf], führte mich zufällig zu einer Person, die in meiner Autobiographie häufig erwähnt wird: Karl Julius Schröer. Als ich ankam, fand ich ihn, wie viele andere auch, zutiefst erschüttert über das, was geschehen war. Und das Wort "Nero" kam ihm - scheinbar grundlos - über die Lippen, als ob es aus den dunklen Tiefen des Geistes hervorbräche."

In einem Artikel, der siebzig Jahre nach dem Tod von Kronprinz Rudolf eine Bilanz der Meyerling-Affäre zieht, fasste die New York Times das "schreckliche Ereignis" zusammen, von dem Steiner sprach. Diese Jahrzehnte später verfasste Zeitungszusammenfassung ist insofern interessant, als sie Prinz Rudolf immer noch einen positiven Anstrich verleiht. Die in dem Artikel verwendete Formulierung "letzte Hoffnung für eine neue und aufgeklärte Monarchie" spiegelt die Haltung des neunzehnten Jahrhunderts zum Zeitpunkt des Todes von Prinz Rudolf wider, eine Haltung, die bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein anhielt. Kronprinz Rudolf wurde mit Hoffnung betrachtet; man stellte sich vor, dass er eine fortschrittliche Alternative zu seinem Vater, Kaiser Franz Josef, sein könnte ... so quixotisch und skurril das für das Empfinden des 21. Der Artikel der NY Times vom 26. Januar 1964 enthält diese Worte:

"Mit dem Tod Rudolfs starb die letzte Hoffnung auf eine neue, aufgeklärte Monarchie. Mehr als ein Vierteljahrhundert lang regierte der alte Postmeister-Kaiser Franz Joseph weiter, ohne die wirklichen Probleme zu kennen, um die es ging. Die formale Einhaltung der Hofetikette lag ihm sehr am Herzen, alles andere schien ihn nicht zu interessieren. Einmal im Jahr, am Todestag Rudolfs, erschien er kurz neben dem Grab seines Sohnes, murmelte ein Gebet und eilte dann davon. Bei Hofe war es niemandem erlaubt, Rudolfs Namen zu erwähnen. Im Alter von 84 Jahren stürzte Franz Joseph, der unkriegerischste aller Kaiser, in einen Krieg mit Serbien, weil der Thronfolger Franz Ferdinand von serbischen Nationalisten ermordet worden war. Mit diesem Krieg begannen alle unsere Schwierigkeiten. Das wäre vielleicht nicht passiert, wenn Rudolf noch gelebt hätte."

 

"Die Bedeutung des Jahres 1889 in der Biographie Rudolf Steiners".

1889, das Jahr, in dem Kronprinz Rudolf starbist für Rudolf Steiner, der 1889 achtundzwanzig Jahre alt war, in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Er war ein Saturn-Wiederkehrer. Zum Beispiel:

  • Rudolf Steiner hatte seine erste Erfahrung mit der Erkenntnis eines vergangenen Lebens nach einem Gespräch mit einem Zisterzienserpater im Jahr 1889.

"Um zu zeigen, wie Karma funktioniert, werde ich mich auf ein Ereignis beziehen. Ich hatte einen Vortrag zu halten. Durch die Nachmittagstees bei delle Grazie hatte ich die Zisterzienser-Professoren der Theologie, die in ihrem Haus verkehrten, gut kennengelernt. Ich hielt eine Vorlesung. Ein Priester des Zisterzienserordens war dort, ein bemerkenswerter und ausgezeichneter Mann. Als ich meinen Vortrag beendet hatte, machte er eine sehr merkwürdige Bemerkung, deren Art ich nur andeuten will, indem ich sage: Er sprach Worte aus, in denen seine Erinnerung daran enthalten war, dass er mit mir in einem früheren Leben auf der Erde zusammen gewesen war. Solche Dinge erziehen uns in der Tat für das Leben. Das war im Jahr 1889." [Aus dem Vortrag Karmische Beziehungen vom 27. Mai 1924]

  • 1889 ist das Jahr, in dem Rudolf Steiner seinen "ersten anthroposophischen Vortrag" hält. Goethe als Vater einer neuen Wissenschaft der Ästhetik (wie Christoph Lindernberg in seiner Steiner-Biographie feststellt). Dieser Vortrag wurde 1888 in Wien gehalten und 1889 veröffentlicht. Für weitere Informationen über Rudolf Steiners Erste Ansprache, klicken Sie auf diesen Satz.
  • 1889 wurde Rudolf Steiner mit Hilfe und auf Empfehlung seines Freundes und Mentors Karl Julius Schröer zum Herausgeber von Goethes wissenschaftlichen Werken ernannt im Goethe-Archiv in Weimar.
  • 1889 war das Jahr, in dem Rudolf Steiner nach eigenem Bekunden erstmals den Sinn und die Bedeutung von Goethes "Märchen" erkannte der Grünen Schlange und der Schönen Lilie, wie im Vortrag vom 9. Mai 1924 in der Reihe "Karmische Beziehungen" berichtet. Rudolf Steiner bezeichnete diesen Text als "die Keimzelle" der anthroposophischen Bewegung, und er würdigte die literarische Bedeutung von Goethes Text als Inspiration für sein erstes Mysteriendrama.

"Es war im Jahr 1889 - ich erzähle davon in Die Geschichte meines Lebens-dass die innere geistige Konstruktion von Goethes Das Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie zum ersten Mal vor meinem geistigen Auge auftauchte. Und da wurde mir zum ersten Mal die Wahrnehmung eines größeren, umfassenderen Zusammenhangs bewusst, als er in Das Märchen Ich habe es selbst erlebt."

". . dann, sieben Jahre später, im Jahre 1896, [Goethes Das MärchenAber immer noch nicht so, dass sie richtig geformt werden konnte; und dann noch einmal, etwa 1903, sieben Jahre später. Auch damals konnte es, obwohl es mit großer Schärfe und vielen Verbindungen kam, noch nicht die richtige Form erhalten. Wieder sieben Jahre später, als ich mein erstes Mysterienspiel konzipierte, Das Portal der Initiation - dann erst hat Das Märchen wieder auftauchen, so umgewandelt, dass sie plastisch geformt werden kann." [Aus dem Vortrag "Karmische Beziehungen" vom 9. Mai 1924]

Das Jahr 1889 hat in der Biographie Rudolf Steiners weitere wichtige, aber indirekte Bedeutungen. Zum Beispiel, 1889 wurde Friedrich Nietzsche verrückt. Im Jahr 1889 der Theosoph Eduard Schure veröffentlichte sein beliebtes und gefeiertes Buch Die großen Eingeweihten. Ich erwähne dies, weil Eduard Schure eine sehr wichtige "karmische" Rolle in Steiners Biographie spielte, indem er Marie von Sivers auf Rudolf Steiner hinwies, was wiederum Rudolf Steiners kritische Arbeit mit der Theosophie und mit der Zeit die Abspaltung der anthroposophischen Bewegung von der Theosophie ermöglichte.

 

2. "Professor Capesius ... war aus dem wirklichen Leben gegriffen."

Dr. Hiebel verweist den Leser auf das Buch Drei Vorlesungen über die Mysteriendramen veröffentlicht von The Anthroposoophic Press im Jahr 1983. David W. Wood (Übersetzer von Der Allgemeine Brouillon von Novalis) hat einen Aufsatz über die Figur des Professor Capesius und die Identität der Person hinter dieser Figur geschrieben. Der Artikel von Dr. Wood Rudolf Steiner und Professor (Josef) Capesius: zum hundertjährigen Jubiläum des ersten Mysteriendramas in München (1910-2010) ist im Internet unter Academia.edu verfügbar. Hier ist ein Auszug:

"Im August 2010 stieß der Autor des vorliegenden Aufsatzes bei seinen Recherchen zur Philosophie von Karl Julius Schröer auf eine Passage in Schröers Schriften, in der er sich auf einen gewissen Professor Capesius aus Hermannstadt bezieht. Schröers Bemerkung erinnert sofort an die Existenz eines anderen Professors Capesius - die der gleichnamigen Figur in Rudolf Steiners Mysteriendramen. Außerdem hatte Rudolf Steiner im September 1924 auf eine Verbindung zwischen K. J. Schröer und der Dramenfigur des Capesius hingewiesen. Daraus ergibt sich die Frage: In welchem genauen Verhältnis steht der reale Professor Capesius in Hermannstadt, der Goetheforscher Karl Julius Schröer, zur Figur des Professor Capesius in den Mysteriendramen? Der folgende Aufsatz ist ein Beitrag zur Beantwortung dieser Frage."

 

 

3.29.24