Emil Bock hielt diesen Vortrag vor den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft am 29. September 1953. Der Vortrag wurde später veröffentlicht in dem Buch Rudolf Steiner von Emil Bock, Verlag Freies Geistesleben, 1961. Diese englische Fassung, übersetzt von Traute Page und herausgegeben von Hilmar Moore, erschien erstmals in der Frühjahrsausgabe 1993 der Zeitschrift für Anthroposophie, die inzwischen aufgelöst wurde. Der Aufsatz liefert einige hilfreiche Hintergrundinformationen und Zusammenhänge zum Videovortrag über das Märchen von Goethe "In meinem Ende ist mein Anfang... Das Märchen, das die Anthroposophie inspirierte", den ich im August 2025 veröffentlicht habe. Dieses Vortragsvideo, das ich ursprünglich auf Zoom vor einem Publikum gehalten habe, das die Front Range Anthroposophisches Cafeerforscht Das Märchen ist Bedeutung für Rudolf Steiner und für unser 21. Jahrhundert.
Die Schicksalsgruppierungen um Rudolf Steiner in seinem Wiener Jahrzehnt, 1879-1889
von Emil Bock
An der Schwelle zum Michael-Zeitalter
Es hat eine symbolische Bedeutung, dass Es war im Herbst 1879, als Rudolf Steiner nach Wien ging. als ein junger Mann, der ein Studium an der "Technischen Hochschule" beginnt. (Technische Universität). Zur gleichen Zeit trat auf einer höheren Ebene ein mächtiger Führer der Menschheit sein Amt an. Ein neues Michael-Zeitalter hatte begonnen. Plötzlich wurde der Herbst zu einem archetypischen Bild und symbolisch wie nie zuvor.
Draußen in der Natur fand der Übergang vom Spätsommer zum Herbst statt. Die Natur wurde stumm, der Mensch musste sprechen. Die äußere Welt wurde still, das innere Leben forderte sein Recht. Das geschah im Jahr 1879, in völliger Stille. Der Hochsommer der Menschheit endete, ihr Herbst begann. Nun aber war der Mensch gekommen, der das innere Leben des Denkens erleuchtet und der Menschheit den Weg weisen kann. Das Schicksal symbolisiert. Im Leben eines achtzehneinhalbjährigen Mannes bildete sich eine kleine Silhouette des kosmischen Ereignisses. Er verließ das schöne, ruhige Land und zog in die große Stadt.
Das kleine Dorf Neudörfl, in dem Rudolf Steiner die entscheidenden Jahre seiner Jugend verbrachte, liegt zwischen der Großstadt im Norden und den dunstigen blauen Bergen im Süden und Südwesten. Wenn man sich von den Bergen abwendet und den Blick nach Norden richtet, erscheint die Landschaft wie eine riesige Eingangshalle zum Stadtleben. Schon Rudolf Steiners Gymnasialjahre brachten eine erste Etappe dieses Übergangs mit sich, denn sie führten ihn täglich mit dem Zug oder zu Fuß nach Wiener Neustadt, das einen Vorgeschmack auf die große Stadt Wien gab. Von dieser Stadt aus kann man die Berge noch gut sehen, aber Wien ist noch zu weit weg, um gesehen zu werden. Obwohl Wiener Neustadt bald zum industriellen Zentrum Österreichs werden sollte, war es zu dieser Zeit eine ruhige Stadt, die noch von der Welt des Mittelalters zeugte. Wie sehr die Zisterzienserlehrer an der Schule ein Teil der Stadt waren, hinterließ bei dem jungen Gymnasiasten einen tiefen Eindruck. Sie liefen in ihren klösterlichen Gewändern durch die Straßen, als ob das Mittelalter noch nicht zu Ende wäre.
Im Juni 1879 beendete Rudolf Steiner zusammen mit seinen Kommilitonen die Abschlussprüfung in Wiener Neustadt. Im September begann er sein erstes Semester an der Technischen Hochschule in Wien. Der Übergang war ein stiller, wie ein menschlicher Abglanz des universellen Übergangs, der die Menschheit in ihr neues Zeitalter führte. Wo sonst hätte es einen schöneren, gefühlvolleren Spätsommer geben können als in Wien? In diesem Moment erlebte Wien einen entscheidenden Wandel, der sich aus einer historischen Notwendigkeit ergab. Das Wien von Mozart, Beethoven und Schubert war zu Ende. Die bezaubernde Welt des Biedermeier verblasste. Aber Wien hatte nicht aufgehört, die Stadt der Musik zu sein. Die Tatsache, dass Johann Strauß und Millöcker ihre Operetten komponierten, kann als Weiterentwicklung und Fortführung der Wiener Volksmusik angesehen werden ("Fledermaus" 1874, "Bettelstudent" 1881). Aber auch ganz neue Klänge waren zu hören. Das musikalische Wien war zu dieser Zeit zweigeteilt, wenn auch zunächst auf eine liebenswerte Art und Weise. Brahms und Bruckner komponierten Seite an Seite, und Hugo Wolf begann seinen Weg zum musikalischen Schaffen. 1879 vollendete Bruckner sein himmlisches "Quintett für Streicher" und im darauffolgenden Jahr seine 6., 7., 8. und 9. Sinfonie sowie das "Te Deum".
Klänge tauchten auf, die andere Ohren forderten als zuvor. Wenig später wagten sich Schönberg und seine Gruppe mit neuen Werken hervor, die für die an Melodien gewöhnte Wiener Seele anfangs die reine Qual gewesen sein müssen. Auch auf dem Gebiet der Architektur kam es um 1870 zu einer starken Revolution, ähnlich wie in Berlin, wo die ersten großen Wohnhäuser entstanden. Hier zeigt sich, dass es sich um eine Zeit der Neugründungen handelt, und die Revolution ist nicht nur das Ergebnis eines siegreichen Krieges, wie es in Berlin der Fall war, sondern etwas, das gleichzeitig und überall durchbricht. In Wien waren damals eine ganze Reihe von Neubauten errichtet worden, Bauten, die für unser Auge etwas schmerzlich waren: das Parlament, das Rathaus, die Votivkirche. Deren Architektur bezeichnete Dr. Steiner gerne als "Kümmelgotik". Aber man war durchaus stolz auf die neuen imposanten Gebäude. In den ersten Wochen seines Studiums hörte Rudolf Steiner die Antrittsrede des neuen Direktors der Technischen Hochschule, Freiherr Heinrich von Ferstel, des Architekten und Erbauers der Votivkirche. Die Kernaussage seiner Rede lautete: Wir können keine neue Architektur schaffen, sie wird aus dem Strom der Zeit geboren. Jeder, der logisch denken kann, hätte antworten müssen: Aber ihr ahmt doch nur den alten Stil nach. Der Stil der Votivkirche war nur eine Form der Spätgotik. Aber die Menschen hatten den Eindruck, dass sie in einer fortschrittlichen, aus der Zeit geborenen Kreativität standen. Gigantische Wohnhäuser entstanden, Stockwerk über Stockwerk. Bruckner etwa wohnte in der entscheidenden Phase seines Schaffens im 7. Stock eines dieser Gebäude. Stock eines dieser Gebäude. Er musste die sieben Stockwerke zu Fuß hinaufgehen, was ihm nicht immer leicht fiel. Rund um die Börse wurden solche Riesenbauten errichtet, wenn auch in bescheidenem Umfang. Viele wohlhabende jüdische Kaufleute besaßen solche riesigen Häuser im Stil der Börse.
In einem solchen Haus in der Kolingasse übernahm Rudolf Steiner bald nach seiner Ankunft in Wien die Stelle eines Hauslehrers. Die Familie Specht hatte ein reges gesellschaftliches Leben, an dem Rudolf Steiner bald aktiv teilnahm. In der Verwandtschaft gab es mehrere Musiker. Brahms besuchte das Haus oft. Die Architektur leitete diesen plötzlichen, arroganten Umbruch ein, der allen Charme zerstörte, aber sie war nur ein Teil der allgemeinen Veränderung. Wäre Wien so geblieben, wie es zu Lebzeiten Franz Schuberts war, hätte es seine Rolle im Herbst der Menschheit in Michaels Zeitalter nicht spielen können. So war der Schauplatz der richtige für das Stück, das nun stattfand.
Schicksalsgruppierungen / Gruppe Eins
Betrachten wir die drei Hauptgruppen von Menschen, die Rudolf Steiner in seiner Wiener Zeit umgaben. Sie sind durch die folgenden Namen gekennzeichnet: Karl Julius Schröer, Marie Eugenie della Grazie und Marie Lang. Dazu kommen zwei besondere Figuren, die eine am Anfang, die andere gegen Ende des Jahrzehnts, das Rudolf Steiner in Wien verbrachte. Nur in Gruppen zusammengefasst, lässt sich der Farbenreichtum ermessen, mit dem das Schicksal die Menschenwelt malte, die um den Schüler Rudolf Steiner pulsierte.
Die besondere Figur am Anfang der Periode ist der Kräutersammler Felix.' Er hatte ganze Welten hinter sich und brachte sie in Kontakt mit Rudolf Steiner. Es ist der magische Hauch des Zufalls, der in ihrer Begegnung liegt. Stellen wir es uns vor. Der junge Steiner steigt ein paar Stationen vor dem Wiener Bahnhof in den Zug ein, und da sitzt dieser eifrig aussehende Fahrgast mit einem breitkrempigen Hut und einem Bündel Kräuter, die er in die Apotheken der Stadt bringt. Jeder von ihnen muss die besonderen Qualitäten des anderen bemerkt haben, und bald sind sie in ein Gespräch vertieft, das sie fortsetzen, nachdem sie aus dem Zug ausgestiegen sind und durch die Stadt spazieren - und weitergehen, wenn Felix einmal in der Woche mit demselben Zug von Trumau nach Wien fährt. Bevor Rudolf Steiner von den Professoren der Technischen Hochschule und der Universität Wien lernte, lernte er von dem Mann, der die tiefe Weisheit des Lebens und der Kräfte des Pflanzenreichs in sich trug. Durch ihn gewann Rudolf Steiner eine Verbindung mit der weiten, noch geistig bewussten Vergangenheit. In der Seele des jungen Studenten wurde ein Boden bereitet, der die späteren Samen seines fleißigen Universitätslernens in anderer Weise aufnehmen sollte.
Und der magische Hauch des Zufalls geht weiter. In irgendeiner Verbindung mit dem viel bewunderten und geliebten Felix lernte Rudolf Steiner in den ersten Tagen seiner Wiener Zeit einen anderen Mann kennen. Dieser Mann spielte eine unauffällige Rolle im Trubel des Stadtlebens, fast unbemerkt von seiner Umgebung. Es ist möglich, dass Rudolf Steiner eine Frage gestellt hatte, auf die Felix keine Antwort hatte, ihm aber riet, diesen Mann zu fragen, in dem eine kulturfremde, aber nicht auf der Natur beruhende Weisheit lebte. Wenn dieser Mann sprach, schien es wie die Rede eines Geistwesens, das sich sowohl der Gegenwart als auch der Zukunft bewusst war. Klang er nicht wie einer der Geister Michaels, der gerade begonnen hatte, über die Menschheit zu herrschen? Rudolf Steiner legte sorgfältig einen Schleier um diese geheimnisvolle Gestalt. Er lässt nur einige kurze Bemerkungen fallen: zum Beispiel, dass er diesen Mann durch Felix gefunden habe, was die Frage offen lässt, ob Felix die Person gut kannte oder nicht.
Im Jahr 1906 vertraute Rudolf Steiner dem elsässisch-französischen Schriftsteller und Dichter Edouard Schure einige Etappen seiner Lebensentwicklung an. Er wohnte als Gast von Schure in Barr am Fuße des Odilienberges. Dort sprach er auch über die geheimnisvolle Gestalt in Wien. Schuré muss sehr bewegt gewesen sein und hat später das, was ihm aus dem Gespräch in Erinnerung geblieben ist, in seinen eigenen Worten und Gedanken zusammengestellt. Es ist in der von Schuré verfassten Einleitung zur französischen Ausgabe von Das Christentum als mystische Tatsache:
Der Meister, den Rudolf Steiner fand, war eine jener mächtigen Persönlichkeiten, die unter der Maske eines bürgerlichen Berufes der Welt unbekannt leben, um ihre Mission zu erfüllen. Die Anonymität ist die Bedingung ihrer Macht, aber ihre Taten sind um so einflussreicher, weil sie diejenigen aufwecken, lehren und leiten, die in der Öffentlichkeit Taten vollbringen werden ... Rudolf Steiner hatte sich bereits seine geistige Aufgabe gestellt, nämlich Religion und Wissenschaft wieder zu vereinen, Gott in die Wissenschaft und die Natur in die Religion zu bringen und von dort aus die Künste und das Leben wieder zu beleben. Aber wie konnte er diese unerhörte und kühne Aufgabe in Angriff nehmen? Wie könnte er hoffen, den Gegner, nämlich die heutige materialistische Wissenschaft, die wie ein furchtbarer, schwer gepanzerter und seine Schätze bewachender Drache erscheint, zu überwinden oder vielmehr zu zähmen und zu verändern. Wie könnte er diesen Drachen der modernen Naturwissenschaft zähmen und ihn an das Fahrzeug der geistigen Erkenntnis ankoppeln? Und, was noch schwieriger ist, wie könnte er den Stier der öffentlichen Meinung überwinden? Der Meister Rudolf Steiners war ganz anders als er selbst. Er war ein durch und durch maskuliner Mensch, wie ein Löwenbändiger, der seinen Tieren Angst einflößt. Er schonte weder sich noch andere. Sein Wille war wie eine Kanonenkugel. Sobald sie die Kanone verließ, flog sie in gerader Linie zum Ziel und zerstörte alles, was sich ihr in den Weg stellte. Die Fragen seines Schülers beantwortete er in etwa wie folgt: Wenn du den Feind besiegen willst, beginne damit, ihn zu kennen. Du wirst über den Drachen siegen, wenn du unter seine Haut schlüpfen kannst. Du musst den Stier bei den Hörnern packen. Nur in größter Gefahr wirst du deine Mitstreiter und deine Waffen finden können. Ich habe dir gezeigt, wer du bist. Nun geh und bleibe dein eigenes Ich.
Diese recht freie Beschreibung kommt der historischen Realität zweifellos sehr nahe. Es scheint, dass in Rudolf Steiners Seele ein Michael-Impuls geweckt wurde. Dem Drachen unter die Haut zu gehen, bedeutet, die Naturwissenschaften und die Technik nicht von außen anzugreifen, sondern sie zu beherrschen. Das hat Rudolf Steiner sein Leben lang getan, als der große Pionier der geistigen Forschung. Man bedenke, wie anders die Grundeinstellung zum Leben war, die er damals als junger Student gehabt haben muss - weil niemand sonst wusste, dass es einen Mann wie seinen Meister in der Stadt gab.
Rudolf Steiner nahm sein Studium an der Technischen Hochschule mit großer Begeisterung auf. Seine Fächer waren Mathematik, Physik und Chemie. Er hörte auch die Vorlesungen von Karl Julius Schröer, der den Studenten an dieser Schule die schönen Künste vorstellte. Obwohl Rudolf Steiner Mathematik und Naturwissenschaften studierte, fühlte er sich von Anfang an zu dem sechsunddreißig Jahre älteren Schröer hingezogen. Es entstand eine gewisse Anziehungskraft zwischen ihnen, wie in der alten klassischen Lehrer-Schüler-Beziehung, und die übliche Dozenten-Hörer-Beziehung gab es nie.
Karl Julius Schröer und Franz Brentano
Schröer gehörte zu der kleinen Gruppe der Protestanten im überwiegend katholischen Österreich. Diese Gruppe unterschied sich in politischer und anderer Hinsicht vom Rest des österreichischen Volkes. Schröers Vater, Tobias Gottfried, war bereits 1850 verstorben. Sie hatten in Pressburg gelebt. Schröers Vater hatte einen wahrhaft edlen Geist und war typisch für die deutsche protestantische Gruppe in Österreich. Er war Lehrer, Direktor eines Gymnasiums und Autor von Büchern über Schönheit, Moral und Gerechtigkeit, die er unter dem Namen Christian Oser veröffentlichte. Seinen wahren Namen konnte er nicht verwenden, da er ständig Verfolgungen ausgesetzt war, obwohl er keineswegs ein stürmischer Charakter war, der gerne in den Widerstand ging. Sowohl er als auch sein Sohn waren ruhige, eher beschauliche Menschen und sie schufen Werke, die das reife Ergebnis der protestantischen Epoche waren. Fast möchte man sagen: Was sie schufen, war die reife Frucht, die protestantische Frömmigkeit außerhalb kirchlicher Kreise hervorbringen konnte, und die Menschlichkeit, die diese Frömmigkeit hervorbringen konnte, hatte hier ihre edelste Form.
Rudolf Steiner konnte sich in seinem Lerneifer nicht mit dem zufrieden geben, was die Technische Universität zu bieten hatte. Wann immer er die Gelegenheit hatte, ging er an die Universität Wien, um dort Vorlesungen zu hören. Zwei Philosophen zogen ihn dort besonders an: Robert Zimmerman und Franz Brentano. Betrachten wir letzteren. Es ist hilfreich, Brentano, den Katholiken aus den Rheinprovinzen, mit dem protestantischen Österreicher Schröer zu vergleichen. Brentano stammte aus einer frommen katholischen Familie; sein Onkel war der Dichter Clemens Brentano. Der Katholizismus Franz Brentanos verursachte ihm überwältigende innere Konflikte. Der Verkündigung der Unfehlbarkeit des Papstes auf dem Konzil von 1870 konnte er nicht zustimmen. Er trat von seinem katholischen Lehrstuhl zurück und wurde Protestant. Auch das Angebot eines Lehrstuhls in Wien lehnte er ab und setzte seine Lehrtätigkeit auf privater Basis fort, was ihn in finanzielle Bedrängnis brachte. Sein Leben endete in einer Tragödie. Im Jahr 1896 verlor er sein Augenlicht und zog nach Florenz. Er starb 1917 in Zürich, völlig unbekannt. Rudolf Steiner fand erst nach Brentanos Tod eine echte Verbindung zu ihm. Das Buch Von Seelen-Rätseln, das im Todesjahr Brentanos geschrieben wurde, zeugt von dieser Verbindung. Es enthält einen Artikel über Brentano.
Welche Wirkung hatten die Vorträge dieser beiden Männer auf den jungen Rudolf Steiner? Richard Kralik, eine andere sehr interessante Persönlichkeit in Wien, schreibt in seiner Autobiographie über Brentanos Vorlesungen.
Ich konnte mir die zweifellos außergewöhnlichen Wirkungen nur durch die Magie seiner Persönlichkeit erklären. Er hatte Züge eines Propheten oder Magiers, etwas Ekstatisches und Geheimnisvolles. Sein schwarzes Haar umgab ein christusähnliches Antlitz...
und Rudolf Steiner sagt in seiner Autobiographie,
Seine Gedanken waren präzise und schwerfällig zugleich. Sein Vortragsstil hatte etwas Feierliches an sich. Ich hörte zu, was er sagte, war aber gezwungen, jeden Augenblick den Ausdruck seiner Augen, jede Drehung seines Kopfes und die Gesten seiner ausdrucksstarken Hände zu verfolgen.
"Philosophenhände" nannte Rudolf Steiner sie in dem wunderbaren Artikel über Brentano, der in Das Goetheanum. Diese Hände hielten ein Manuskript so locker, dass es schien, das Papier würde jeden Moment wegfliegen. So stand Brentano im Leben, kaum die Oberflächen berührend.
Rudolf Steiner lernte Brentano nie persönlich kennen, aber er kam Schröer immer näher. Unter Die Geschichte meines Lebensschrieb er,
Immer wenn ich die kleine Bibliothek, die auch Schröers Arbeitsraum war, betrat, fühlte ich mich in einer für mich sehr wohltuenden geistigen Atmosphäre... Ich wurde geistig warm, wenn ich in seiner Nähe war. Ich durfte dort stundenlang neben ihm sitzen.
Für diese ersten Jahre in Wien war es von großer Bedeutung, einen Lehrer zu haben, der keine großen Gedankeninhalte aufwies, sondern mehr aus dem Gefühl, aus dem Herzen sprach und sich für alles Menschliche interessierte, vor allem für das Hören auf die Offenbarungen der Volksseele, wie sie hier und da noch aus dem schriftlichen Zeugnis der alten Zeit spricht. Schröers Hauptthema war seine Suche nach dem besonderen Zeugnis in der Volksdichtung, vor allem in den Märchen, und wie sie ihn zur Entdeckung der Oberufer Weihnachtsspiele führte. Er machte seinen Schülern bewusst, wie sehr er diese alte Weisheit liebte, die sich in einem eher instinktiven Volksleben zeigte.
Rudolf Steiner hat einmal gesagt, er fühle sich in einer Oase des Idealismus, wenn er bei Schröer sei. Aber von Anfang an machte er den Unterschied zwischen Schröers und seiner eigenen Welt deutlich. Unter Die Geschichte meines LebensSchröer war ein Idealist; die Welt der Ideen war für ihn das schöpferische Prinzip in der Natur und in der Menschheit", schrieb er. Für mich war die Idee der Schatten einer lebendigen geistigen Welt. Es fiel mir schwer, den Unterschied zwischen Schröers und meiner Denkweise in Worte zu fassen."
Der Schüler hörte dem Lehrer mit ganzem Herzen zu, sah sich aber immer mehr mit einer einzigen Frage konfrontiert. Es war ihm klar, dass es nicht genügt, über Ideen zu sprechen; sie bleiben Schatten einer geistigen Wirklichkeit. Zu dieser Wirklichkeit vorzudringen, verlangt eine ungeheure Intensivierung der Seelenkräfte. Er, Steiner, wusste, dass er diesen Schritt tun konnte. Schröer fehlte diese Möglichkeit.
Dichter und Schriftsteller
Es gab nicht nur die Besuche des Schülers beim Lehrer, sondern beide besuchten die Dichter und Schriftsteller, die in und um Wien lebten. Sie hörten deren Poesie, und Steiner nahm innerlich Anteil an der Art und Weise, wie Schröer sie rezipierte. Schröer hatte 1875 eine Anthologie deutscher Dichter veröffentlicht, in der er die Dichter beschrieb, ohne ihre philosophische Gedankenstruktur zu betonen, sondern ihnen von Mensch zu Mensch zu begegnen. Dem Gefühl des Dichters wurde mehr Bedeutung beigemessen als dem Inhalt seiner Gedanken. Rudolf Steiner hat durch diese Herangehensweise sehr viel gelernt.
Professor Capesius in den Mysteriendramen ist eine Art Metamorphose von Professor Schröer. Er wird nicht so dargestellt, wie er im Leben erschien, sondern mit einigen starken Abweichungen. Aber es ist er, wie er von innen gesehen wird. Wir wissen, wie intim Capesius mit Felix und Felicia Balde war, wie er ihren Märchen zuhörte. Es ist sehr aufschlussreich, darüber nachzudenken, wie stark die Umgebung von Wien in das Mysterium Dra-mas hineinspielt. Hat Schröer wirklich einen Felix Balde besucht? Es ist ziemlich sicher, dass er das Haus einer anderen Figur besucht hat, nicht weit entfernt und lange bevor Steiner Felix kannte. Es ist kein Zufall, dass Rudolf Steiner diese Figur zusammen mit Felix in einem späten Vortrag, 1919, erwähnt.
Diese Figur war der Schulmeister Johannes Wurth aus Münchendorf, in der Nähe von Felix' Heimatdorf. Rudolf Steiner schrieb über Wurth,
Als ich den guten Felix in seinem Haus besuchte, besuchte ich auch die Witwe jenes Schulmeisters, der einige Jahre zuvor gestorben war. Ich besuchte die Witwe, weil dieser Schulmeister aus Südösterreich eine so faszinierende Persönlichkeit war. Sie war noch im Besitz seiner ungewöhnlichen Büchersammlung. Sie enthielt alles, was jemals über die deutsche Sprache, Mythologie und Legenden geschrieben worden war. Bis zu seinem Tod hatte dieser einsame Schulmeister keine Gelegenheit gehabt, an die Öffentlichkeit zu treten. Nach seinem Tod veröffentlichte jemand ein paar seiner Schriften.
Dieser Schulmeister, Johannes Wurth, starb 1870, hatte aber mit Schröer zusammengearbeitet. Er kannte sich gut aus in den verschiedenen Dialekten, in Märchen und lokalen Legenden, in allem, was der Volksseele entspringt. Schröer wusste sehr gut, wo er diese ungewöhnlichen Figuren finden konnte, die er mit viel Enthusiasmus und Herzlichkeit empfing. Das ist der historische Hintergrund jener Szenen in den Mysteriendramen, in denen Capesius in einem kleinen Zimmer bei den Baldes in völliger Geistesabwesenheit sitzt. Etwas ganz Ähnliches geschah im Leben von Schröer in seinen späten Jahren. Er wurde senil, wie man sagt, was bedeutet, dass er selbst bereits in einer anderen Welt lebte, während sein Körper in dieser Welt verblieb und noch alle Lebenszeichen von sich gab. Die Persönlichkeit Schröers war so innig mit dem Leben Rudolf Steiners verbunden, dass, wer Steiner liebt, auch Schröer lieben muss.
Das vielleicht wichtigste Ereignis für den jungen Steiner war, wie Schröer ihn zu Goethe führte. Goethe war das Ein und Alles von Schröer und wurde bald sozusagen der dritte Mann in ihrem Kreis. Es gab zwar ein paar andere Studenten, die Schröers Vorlesungen über "Deutsche Literatur seit Goethe" hörten, aber es schienen nur drei zu sein, auf die es ankam: Schröer, Steiner und Goethe. Nach einiger Zeit geschah das Erstaunliche, dass der Schüler mehr über Goethe wusste als der Lehrer, und letzterer begann, intensiv zuzuhören, wenn der Schüler über Goethe sprach. Was Schröer über Goethe wusste, war der Mensch und der Dichter. Nun kam dieser junge Mathematiker und Naturwissenschaftler und sprach über Goethe, den Naturwissenschaftler. Natürlich wusste Schröer um die Existenz von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, aber sie waren ihm nicht nahe. Bald musste Rudolf Steiner sich sagen: Hier ist Schröer am Ende; er kennt nur den Menschen und Dichter Goethe. Hier muss ich eintreten und den Naturwissenschaftler und Forscher entdecken. Schröer sah selbst, dass sein junger Schüler ihn in dieser Hinsicht überschattete. Er ermöglichte dem 21-jährigen Studenten die Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in der Werkausgabe von Kürschner, in der er selbst die dramatischen Schriften herausgab.
Am 4. Juni 1882 schrieb Schröer an Professor Kürschner:
Ein älterer Student der Physik, Mathematik und Philosophie, der seit Jahren meine Vorlesungen hört, hat sich mit den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes beschäftigt. Ich habe ihn gebeten, sich an einem populären Artikel über Newton und Goethe zu versuchen und diesen an Ihre Zeitschrift zu schicken. Wenn dieser Artikel den Erwartungen entspricht, haben wir den richtigen Mann für die Redaktion der naturwissenschaftlichen Schriften. Ich habe ihm von dieser Idee nichts erzählt; ich weiß nicht, wie gut er schreibt. Aus mehreren Gesprächen habe ich den Eindruck, dass er das Thema beherrscht und eine Haltung zeigt, die mir richtig erscheint. Sein Name ist Steiner.
(Hier wurden vier Absätze ausgelassen - Anm. d. Red.)
Es wäre sehr interessant zu erfahren, wie Schröer selbst zu dem Gedanken der Reinkarnation gestanden hätte. Aber es war nicht seine Art, sich zu solchen philosophischen Problemen zu äußern. Im Grunde seines Herzens muss er damit durchaus einverstanden gewesen sein. Wir brauchen uns nur an das von Steiner in den Karma-Vorträgen geschilderte Ereignis vom 31. Januar 1889 zu erinnern, als der Kronprinz Rudolf von Österreich auf so tragische Weise sein Leben beendete, dass ganz Österreich von einem gewaltigen Schock erfasst wurde. Rudolf Steiner besuchte Schröer, der völlig fassungslos wirkte. Das Ereignis hatte ihn so tief erschüttert, dass er nicht in der Lage war, eine Diskussion zu führen, die normalerweise eine so angenehme Aufgabe ist. Er saß wie betäubt. Als sie schließlich zu sprechen begannen, sprach er "wie aus der dunkelsten Geistertiefe" das Wort "Nero" aus. In den Karma-Vorträgen verwendet Steiner diese Szene als Beispiel für die Fähigkeit, karmische Zusammenhänge zu erahnen, ohne systematische Konzepte über Karma zu haben oder zu verwenden. Dieser Moment bedeutete für den jungen Rudolf Steiner jedoch viel. Es war wie das Heben eines Vorhangs.
Schicksalsgruppierungen / Gruppe Zwei
Nun kommen wir zu der zweiten Gruppe von Menschen, die für Rudolf Steiner in seinen Wiener Jahren von Bedeutung waren. Schröer unterhielt sich gerne mit seinen Schülern über die aktuelle Poesie, wie sie gerade erschien. Eines Tages, 1885 oder 1886, fiel ihm ein Gedicht in die Hände, das ein fünfzehnjähriges Mädchen geschrieben hatte und von dem er sehr begeistert war. Er las sie Rudolf Steiner vor, der ebenfalls von der poetischen Kraft, die dahinter stand, tief beeindruckt war. Schröer veranlasste Steiner, einen kurzen Artikel über die Dichterin zu schreiben, und so kam Steiner in persönlichen Kontakt mit der damals einundzwanzigjährigen Marie Eugenie della Grazie. In ihrem Haus in Wahring, einem nördlichen Vorort von Wien, fanden wöchentlich offene Häuser für Poesie und philosophische Gespräche statt. Bald wurden Professor Schröer, seine Frau und Rudolf Steiner zu einem Abend eingeladen. Zur Einführung las Marie Eugenie della Grazie aus ihrem Gedicht Robespierre vor. Schröer war sehr unglücklich. Sowohl das Gedicht als auch die anschließende Diskussion atmeten puren Pessimismus. Es wurde auch deutlich, wie sehr dieser Kreis Goethe ablehnte. Schröer kehrte nie zurück. Anfangs war er sogar wütend auf Rudolf Steiner, der Verbindungen zu dieser pessimistischen Gruppe unterhielt. Durch die Mitglieder dieser Gruppe sprach etwas zu Steiner, das für sein Schicksal sehr wichtig war.
Ein Kreis dieser zweiten Gruppe, der sich samstags traf, bestand hauptsächlich aus Theologen, katholischen und vor allem zisterziensischen Professoren. Sie trafen sich in der Wohnung eines dieser Professoren, Laurenz Müllner, dem Lehrer und väterlichen Freund der jungen Dichterin. Er war ein sehr präziser und sehr liberal denkender Philosoph. Ein weiteres Mitglied des Zisterzienserordens, das an den Abenden teilnahm, war der sehr gelehrte Pater Wilhelm Neumann. Man sagte von ihm, dass er die ganze Welt und drei weitere Dörfer kenne. Während die junge Dichterin das seelische Zentrum dieser Gruppe war, war das geistige Zentrum der Theologe Karl Werner. Steiner ist ihm nie begegnet. Er war berühmt für sein Werk über Thomas von Aquin, drei Bände, die von keinem späteren Werk über Aquin übertroffen werden. So war es selbstverständlich, dass nach der Dichterlesung das Hauptthema der Diskussion um Thomas von Aquin kreiste. Werner hat sich in den Büchern besonders um die Dinge gekümmert, die von der Theologie und Philosophie weg in die Kosmologie führen. So gibt es ein Kapitel über die Sphären der Planeten und ihre Verbindungen zu den Hierarchien. In diesem Personenkreis wurde ein Teil von Thomas von Aquin gepflegt, der ein ganz anderes Bild von ihm vermittelt, als es die Kirche und der Neo-Thomismus tun. Dieser Teil ist seit Werners Zeit wieder in Vergessenheit geraten. Es war eine ganz besondere und ganz wunderbare Atmosphäre, die Rudolf Steiner in diesem Kreis begegnete. Der sechsundzwanzigjährige Steiner trug viel zu den Diskussionen bei, sprach über Goethe, in dessen Schriften er sich tief vertieft hatte. Für Rudolf Steiner war alles ein ständiger Ansporn, das Gedankenleben des Thomas von Aquin zusammen mit Goethe zu betrachten. Die Zisterzienser-Professoren hielten freilich nicht viel von Goethe, dessen Denken nicht scharf konturiert war und dessen Begriffe unscharf waren. Sie waren zwar zu gutmütig, um dies direkt zu sagen, aber es wurde deutlich, wenn sich das Gespräch anheizte.
Für Steiner bedeutete es viel, in dieser Gruppe zu sein. Hier gab es Zisterzienser, die Thomisten waren. Das war für Steiner ein echtes Rätsel, das er nicht auf Anhieb lösen konnte. Die großen Zisterzienser der Geschichte, zum Beispiel die Lehrer von Chartres im 12. Jahrhundert, waren Platoniker, nicht Aristoteliker, während Thomas von Aquin, wie andere Dominikaner, in Aristoteles verwurzelt war.... Hier in Wien traten nun die Zisterzienser als Verteidiger von Thomas von Aquin auf. Irgendetwas schien nicht ganz zu stimmen; das Äußere entsprach nicht dem Inneren. Wir können uns vorstellen, wie viel Steiner bei dem Versuch, dieses Rätsel zu lösen, entdeckt hat.
Dann, am 9. November 1888, hielt Rudolf Steiner einen Vortrag vor der Wiener Goethe-Gesellschaft: "Goethe, der Vater einer neuen Ästhetik". Einige der Zisterzienserprofessoren waren anwesend. Nach dem Vortrag ereignete sich folgendes Ereignis, das, wenn man es nacherzählt, nicht viel zu bedeuten scheint, dem Steiner aber in seinen späteren Karma-Vorträgen große Bedeutung beimaß. Als er zu Ende gesprochen hatte, kam Professor Neumann auf ihn zu und sagte: Thomas von Aquin. Das bedeutete: Sie denken, Sie sprechen von Goethe, aber Sie sprechen für Thomas. Was Professor Neumann vielleicht sagen wollte, war: Sie scheinen Goethe auf thomistische oder aristotelische Weise zu verstehen. Sie sehen ihn nicht so platonisch wie Schröer. In dieser Hinsicht sind wir uns recht nahe. Aber die Tatsache, dass Professor Neumann in diesem Moment den Namen Thomas von Aquin aussprach, hatte für Steiner eine ähnliche Bedeutung wie die oben erwähnte Szene, als Schröer Nero erwähnte, nachdem er vom Tod des Kronprinzen erfahren hatte. Aber wenn man versuchte, mit Neumann direkt über Reinkarnation zu sprechen - Steiner versuchte es einmal -, schien er nicht mehr präsent zu sein. Sie gingen eine bestimmte Straße in der Nähe der Votivkirche entlang und kamen auf das Thema der wiederholten Erdenleben zu sprechen. Neumann ging weiter, schien aber völlig von der Welt um ihn herum entrückt zu sein. Schließlich erlangte er seine Fassung wieder und sagte: "Kommen Sie mit in mein Zimmer; ich habe ein Buch, das darüber spricht." Er sprach weiter wie benommen, nahm Steiner mit auf sein Zimmer und bot ihm ein Buch über eine arabische Sekte an, die viel von der okkulten Tradition bewahrt hatte. Nein, im Kreis um Marie Eugenie della Grazie wollte sich niemand der Reinkarnation auf direktem Wege nähern. Man war viel zu pessimistisch. Wenn man die Erde als einen Ort der Trauer betrachtet, will man nichts von Reinkarnation wissen. Interessanterweise war es bei Frau von Stein ganz genauso. Das war der Grund, warum Goethe nie zu einem echten geistigen Verständnis mit ihr kam. Beim Studium der Literatur sollten wir nicht nur nach Schriftstellern Ausschau halten, die sich positiv über die Reinkarnation äußern, sondern uns auch für diejenigen interessieren, die aus offensichtlichen Gründen nichts davon wissen wollen.
(Hier wurden einige Seiten ausgelassen - Anm. d. Red.)
Schicksalsgruppierungen / Gruppe Drei
Und nun kommen wir zur dritten Gruppe und ihren Persönlichkeiten. Wir haben über die Atmosphäre um Schröer gesprochen: eine platonische Einstellung, die an Athen und das alte Griechenland erinnert. Dann der Kreis um die Dichterin della Grazie mit einer eher mittelalterlichen Atmosphäre. Und es gab natürlich noch ganz andere Atmosphären in Wien zu dieser Zeit. Starke Persönlichkeiten - Schriftsteller, Dichter, Sozialisten, Wagnerianer - sie alle trafen sich im Café Griensteidl. Wir sind an einem Punkt in Rudolf Steiners Leben angelangt, an dem seine enge Bindung an Wien nachlässt. Wir haben über die beiden Vorfälle kurz vor seinem achtundzwanzigsten Geburtstag gesprochen, als Schröer den Namen Nero und Neumann den von Thomas von Aquin aussprach. Nun wollen wir einen dritten Vorfall hinzufügen, der sich um diese Zeit ereignete.
Die dritte Begebenheit betrifft eine Figur, die im weltlichen Teil Wiens prominent war, aber auch mystische und okkulte Themen berührt: Oskar Simony, Professor für Mathematik an der Schule für Bodenkultur. Er war ein großer Mann, ein leidenschaftlicher Bergsteiger, der stets mit nackten, besohlten Füßen und ohne Hut unterwegs war, was für die damalige Zeit recht ungewöhnlich war. Außerdem lief er immer gestikulierend und ziemlich unruhig durch die Straßen. Simony war ein Mathematiker, wie es ihn heute nicht mehr gibt; seine Spezialität war die Mathematik der Schleife oder des Schlupfknotens, eine Art theatralischer Kunstgriff, ein Zweig, der nur aus der Kabbala stammen konnte. Angeregt durch Simony, beschäftigte sich Steiner intensiv mit diesem Zweig. Es ist interessant zu wissen, wie sich die beiden kennengelernt haben. Der große Mann kam auf Steiner zu, zog ihn an den Mantelknöpfen und brüllte: "Sie sind ein Okkultist!" Dann fuhr er fort: "Ich möchte, dass Sie zu mir nach Hause kommen. Ich habe eine wichtige Frage zu stellen. Sie lautete: Gibt es Reinkarnation? Rudolf Steiner war selbst noch auf der Suche nach endgültiger Gewissheit darüber. Er kannte die Antwort tief in seiner Seele, aber er fing erst an, die Konzepte klar zu begreifen, vor allem durch diese Vorfälle, die wir beschreiben.
Simony führt uns zu der nächsten bemerkenswerten Persönlichkeit dieser Gruppe: Friedrich Eckstein. Er war im gleichen Alter wie Steiner, aber seit seinem zwanzigsten Lebensjahr Direktor einer Fabrik. Er war der Gönner von Bruckner und Hugo Wolf, ja der rechte Arm Bruckners, der dafür sorgte, dass seine Geschäfte reibungslos verliefen. Er war ein Weltreisender, beherrschte Jiu-Jitsu und brachte sich selbst alle möglichen schwierigen Tricks bei. Es hieß, er habe sich selbst beigebracht, aus einem schnell fahrenden Zug zu springen, ohne sich zu verletzen. Auch er war ein hochbegabter Mathematiker und in vielerlei Hinsicht ein gelehrter Mann. Die folgende Beschreibung ist einem Artikel von Fulop-Miller aus dem Jahr 1952 entnommen. Es handelt sich um einen etwas sensationslüsternen journalistischen Stil, der mit Vorsicht zu genießen ist, aber dennoch aufschlussreich ist.
Zu dieser Zeit gab es in Wien einen Mann - man sollte sagen, eine Institution. Sein Name war Friedrich Eckstein; er wurde Mac Eck genannt. In Wien, wo sich Literatur, Kunst, Musik, Philosophie und Geschäfte in den Kaffeehäusern abspielten, war es nur natürlich, dass auch Mac Eck, die personifizierte Weisheit, seinen Tisch in einem der Kaffeehäuser hatte. Er trug einen Spitzbart, hatte Augen von orientalischer Form, und sein Alter war selbst seinen engsten Freunden unbekannt. Alle Berühmtheiten Wiens saßen gerne an seinem Tisch: Hugo Wolf, Johann Strauss, Helena Blavatsky, Annie Besant, Anton Bruckner, Rudolf Steiner, Freud, Adler und Trotzki; sie alle berieten sich mit ihm. Wenn Hugo von Hofmannsthal über sein neuestes Stück im Zweifel war, Werfel oder Rilke über ein Gedicht, dann pilgerten sie zu Mac Eck. Architekten legten ihm ihre Entwürfe vor, Mathematiker ihre Gleichungen usw. ... Sogar der kaiserliche Zeremonienmeister erschien eines Tages, um nach einem bestimmten Punkt der spanischen Etikette zu fragen. Wer den Hauptfluss Paraguays mit seinen Nebenflüssen, einen Punkt im Neo-Thomismus, das erste romantische Gedicht oder die erste Erwähnung der Zahnbürste wissen wollte - er hielt Rat bei Mac Eck.
Das ist natürlich eine Art Jargon, also stellen wir ihm die Worte eines besonnenen Musikkritikers zur Seite, der ein Buch geschrieben hat, Legenden der Stadt der MusikMax Graf.
Mein Freund Friedrich Eckstein, von Beruf Fabrikdirektor, war durch die ganze Welt gereist, zu Pferd durch die armenischen Berge, den Mississippi hinunter auf einem alten Dampfschiff. Er war ein gelehrter Mann, tief verwurzelt in Philosophie und höherer Mathematik, Astronomie und Chemie. Er war ein Mystiker und ein Musikliebhaber, eine Mischung aus Kultur und Musikverständnis, wie man sie nur in Wien finden kann. Wie ein echter Pilger ging er zu Fuß zu den ersten Bayreuther Festspielen und stiftete später seine zerrissenen Stiefel dem Wagner-Museum. Er kannte jeden Ton von Palestrinas Motetten und Bachs hohen Messen, ebenso wie jeden Satz von Leibniz und Kant. Er diente Anton Bruckner aus Begeisterung und veröffentlichte auf eigene Kosten Bruckners erste Sinfonien und Hugo Wolfs erste Lieder. Wenn Hugo Wolf kein Geld hatte, wohnte er monatelang bei Eckstein.
Eckstein war sicherlich eine ganz besondere Persönlichkeit, wie alle, die ihm begegneten, bezeugen. Als er fünfundzwanzig war, suchte er Helena Blavatsky auf, die in ihm sofort einen Eingeweihten sah und ihm eines der höchsten esoterischen Symbole gab. Er wurde der Leiter der theosophischen Sektion in Wien.
[Einige Sätze aus einem späteren Vortrag von Bock über dieses Wiener Jahrzehnt sind hier relevant: In dieser Zeit lernte Steiner von Eckstein die Geschichte des Okkultismus in der Entwicklung der Menschheit kennen. Eckstein konnte Rudolf Steiner den Schlüssel zu den okkulten Symbolen in Goethes Werk geben. - Herausgeber].
Durch Hugo Wolf lernte Eckstein im Jahr 1887 ein Ehepaar kennen. [Es waren Edmund und Marie Lang. [Im Haus dieses Ehepaars herrschte eine extreme Aufgeschlossenheit, eine lockere gesellschaftliche Atmosphäre und dennoch eine Tendenz zum Mystizismus. Zitieren wir ein paar Sätze aus Ecksteins faszinierendem Buch The Old Days- Beyond Beschreibungwo er über Marie Lang sagt:
[Sie war eine außerordentlich charmante junge Person mit kastanienbraunem Haar und gleichfarbigen Augen, aus denen große Wärme strömte. Die frische Farbe ihrer Haut, der ungewöhnlich warme Ton ihrer Stimme und ihr silbrig-helles Lachen erregten sofort meine Aufmerksamkeit.
Eine sehr ähnliche Beschreibung von ihr gibt es von Steiner. Er lernte sie erst kennen, nachdem er seine erste Reise nach Deutschland gemacht hatte. Erst nach seinem achtundzwanzigsten Geburtstag öffnete sich für ihn die größere Welt. Er besuchte Berlin und Weimar, wo er Verhandlungen über die Herausgabe eines Teils von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in der Weimarer Ausgabe seiner Werke führte. Nach seiner Rückkehr nach Wien nahm ihn Eckstein in das Haus der Langs mit.
Nach meiner Rückkehr nach Wien konnte ich viele Stunden mit einer Gruppe von Menschen verbringen, die von einer Frau zusammengehalten wurden, deren mystisch-theosophische Qualitäten einen tiefen Eindruck auf alle Teilnehmer machten. Die Stunden, die ich im Haus von Frau Marie Lang verbringen konnte, waren für mich sehr wertvoll.
In Marie Lang finden wir eine Persönlichkeit, die sich gut in die früheste Geschichte der späteren Anthroposophie einfügt. Eines Tages brachte Eckstein Rosa Mayreder mit, und es gab eine schnelle Reaktion zwischen den beiden Frauen, wie eine elementare karmische Erkenntnis. Beide sind im Jahr 1858 geboren. Rosa Mayreder hatte nichts mit Okkultismus oder Theosophie zu tun. Sie war eher extrovertiert und von großer Vitalität. Ihr Vater, der Obermayer hieß, war Besitzer des Winterbierhauses in Wien. Hier begegnete man dem echten Wiener Leben, nicht so sehr dem Bruckner-, sondern eher dem Johann-Strauß-Leben, das auch eine tiefe, ernste Sorge um das Leben hatte. Rosa Mayreder war Malerin, Dichterin, Schriftstellerin - ein wenig berühmt durch ihr Buch Kritik an der Weiblichkeit. Sie schrieb das Libretto für Wolfs Oper Corregidor. Sie brachte einen starken sozialliberalen Impuls in das Haus Lang ein, und auch Marie Lang entdeckte ihr eigenes Talent in dieser Richtung. In späteren Jahren engagierten sich beide Frauen in der Wahlrechtsbewegung und nahmen sich die sozialen Probleme der Zeit zu Herzen.
Marie Lang blieb lange Zeit an der Theosophie interessiert. Wann immer Steiner nach Wien zurückkehrte, besuchte er seine alten Freunde, und Alexander Strakosch berichtet, dass er Steiner noch 1908 zu einer theosophischen Tagung in Wien begleitete, bei der Marie Lange den Vorsitz führte. Die Tatsache, dass sie sich zunehmend in die gesellschaftlichen Aktivitäten ihrer Freundin Rosa Mayreder einbrachte, mag der Grund dafür gewesen sein, dass sie ihre theosophischen Interessen vernachlässigte und nicht in der von Rudolf Steiner eingeschlagenen Richtung aktiv blieb. Mit Rosa Mayreder war sie Mitherausgeberin der ersten Frauenzeitung "Dokumente der Frauen", reiste häufig zu Wahlrechtsversammlungen nach London, gründete eine Siedlung, in der Frauen, die in Fabriken arbeiteten, ihre Freizeit verbringen konnten, und kämpfte gegen das sogenannte Lehrerinnenzölibat, weil sie nicht damit einverstanden war, dass Lehrerinnen nicht heiraten sollten.
Dr. Steiner betonte oft, dass er aus diesem Kreis um Marie Lang wichtige Impulse erhielt. Doch es blieb nicht mehr viel Zeit. Es war im März 1890, als er Rosa Mayreder kennenlernte und im Herbst desselben Jahres nach Weimar zog. Seine Briefe aus dieser Zeit zeugen von der Anregung, die er aus den Gesprächen mit Rosa Mayreder empfand, als er gerade zu schreiben begann Die Philosophie der spirituellen Tätigkeit. Er befand sich nicht mehr in der Atmosphäre des antiken Griechenlands oder des Mittelalters; die Gegenwart hatte die Oberhand gewonnen. Der starke Freiheitsimpuls, den diese beiden intelligenten Frauen vertraten, hatte seinen Anteil an der Entstehung der Philosophie der geistigen Tätigkeit. Ein recht reger Briefwechsel setzte sich fort. Es bedeutete Steiner sehr viel, die Gespräche mit diesen sympathischen Menschen lebendig zu halten. Rosa Mayreder war nicht gerade eine Philosophin, aber das mag ein echter Vorteil gewesen sein. Das Streben nach Erkenntnis brauchte Anregung und Befruchtung aus vielen Richtungen.
Wenn wir die verschiedenen Atmosphären dieser drei Gruppen betrachten, wie drei verschiedene musikalische Tonarten, bekommen wir einen Eindruck vom Schicksal, das Rudolf Steiner in seinen zehn Jahren in Wien umgab, das von Schröer, von della Grazie und den Zisterzienserprofessoren, von Marie Lang und Rosa Mayreder. Einmal, als Steiner 1891 nach Wien zurückkehrte, wollte er das Vergnügen haben, Rosa Mayreder und Marie Eugenie della Grazie zusammenzubringen. Am 22. Dezember 1891 schrieb er an Rosa Mayreder:
Ich hätte gerne gesehen, wie sich Ihre positive und freudige Einstellung zum Leben im Allgemeinen gegen die verzweifelte Haltung von della Grazie, die sich so sehr auf das Sterben konzentriert, behaupten muss. Das wäre ein echtes psychologisches Problem gewesen! Della Grazie ist auf ihre eigene Art der Gegenpol zu den Ansichten unserer hochverehrten Marie Lang. Ich glaube, della Grazie hätte für Sie eine ganz besondere Erfahrung bedeutet.
Bedauerlicherweise hat dieses Treffen nie stattgefunden. Diese verschiedenen Kreise, zu denen Rudolf Steiner so sehr gehörte, konnten sich nicht treffen. Ein Abgrund trennte sie.
Für Rudolf Steiner als jungen Studenten bedeutete die Betreuung des Michael-Geistes, der gerade in die Menschheit eingetreten war, folgendes: Er musste die universelle Komplexität der zu seiner Zeit inkarnierten Menschen erfahren. Er fand die kosmische Universalität, und als die Mauern, die das Geheimnis des Karmas verbargen, durchsichtig zu werden begannen, fand er sich in diesem Kosmos wieder.
08.02.25