Einführung zu GA 32 "Methodische Grundlagen der Anthroposophie"

Von Rudolf Steiner
Übersetzt von Bruce Donehower

Diese kurze Einführung zu GA 32 ist einem Aufsatz entnommen, den Rudolf Steiner im Juni 1920 in Dornach gehalten hat.

Kommentare und Hintergründe zu diesem Aufsatz finden Sie im Beitrag vom 8. September 2021.

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Einleitung zu "Methodische Grundlagen der Anthroposophie" GA 32

Von Rudolf Steiner

Wer einen ehrlichen Blick auf das wirft, was ich über Goethes naturwissenschaftliche Texte geschrieben habe, wird in all diesen Schriften in erster Linie einen geistigen Weg oder eine Methodik entdecken. Und wie es sich gehört, wird man auch feststellen, dass ich diesen Weg oder diese Methodik im Laufe der Zeit immer weiter entwickelt habe. Seit dem Erscheinen dieser ersten Schriften in den 1880er-Jahren sind nun vier Jahrzehnte verstrichen.

Das, was wir heute Anthroposophie nennen, lässt sich in zwei Bereiche aufteilen:

1) der Weg oder die Methode der Forschung, die die Tätigkeit des Suchens und der Vorstellung einschließt; und

2) den Inhalt, der sich aus dieser Forschung ergibt, so wie dieser Inhalt zum jetzigen Zeitpunkt entwickelt werden kann

Natürlich wäre es kein ermutigendes Zeugnis für die anthroposophische Geisteswissenschaft, wenn man nach diesen mehreren Jahrzehnten sagen müsste: "Seit den 1880er Jahren ist nichts Neues von Wert entstanden. Dasselbe, was in den 1880er Jahren publiziert wurde, wiederholt sich immer wieder."

Aber wer sich mit dieser Denkrichtung oder Forschungsrichtung beschäftigt - oder, um einen wissenschaftlicheren Ausdruck zu verwenden: wer sich mit dieser "Methodologie" beschäftigt - wird feststellen, dass alles, was in dieser Methodologie in Betracht kommt, in den 1880er Jahren einen früheren Ausdruck gefunden hat. Die Grundlage und Basis dessen, was wir heute Geisteswissenschaft nennen, kam damals zum Ausdruck. Es versteht sich von selbst, dass sich diese geistige Forschung, deren Anhaltspunkte aus den 1880er Jahren stammen, zunächst mit einem Thema auseinandersetzen musste, das für die moderne geistige Entwicklung den Maßstab setzt: nämlich dem naturwissenschaftlichen Weltbild. Ich habe mir daher zuallererst eine erste Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild zur Aufgabe gemacht.

Das erforderte natürlich eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie. Wer etwas anderes glaubt, missversteht den Inhalt dessen, was ich bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein geschrieben habe. Er wird dort wenig in der Art von religiösen Bekenntnissen und dergleichen finden, aber er wird immer wieder das Bemühen finden, den herrschenden wissenschaftlichen Diskurs zu vergeistigen.

Die Zeit erforderte eine Konfrontation mit den führenden Tendenzen des wissenschaftlichen Denkens. Aber wie sollte dies geschehen? Um zu erklären, wie dies geschah, werde ich mich so weit wie möglich an die Fakten halten, um zu zeigen, was ich für wichtig halte.

Die Fakten sagen uns, dass gerade zu Beginn der 1880er Jahre jene Denkrichtungen, die wir Darwinismus, Haeckelismus und darwinistischen Haeckelismus nennen, die Bedingungen für den Diskurs in bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaften festlegten. Haeckel war zu dieser Zeit eine Größe, mit der man rechnen musste. Anfang der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts hatte er eine Rede gehalten, die damals überall in den Kreisen der Bildung für Aufsehen sorgte. Wir finden die Rede unter dem Titel "Der Monismus als Bindeglied zwischen Religion und Wissenschaft" gedruckt.

Die Ursachen für mein Engagement in den genannten Diskursgemeinschaften lassen sich an folgendem Beispiel ablesen. Das erste Podium, das mir vor meiner Übersiedlung nach Weimar zur Verfügung stand, war in Wien. Dort hielt ich einen Vortrag, in dem ich den Haeckelismus auspackte, das heißt, in dem ich untersuchte, in welcher Weise Haeckels Ideen und Anschauungen die darauf basierenden Theorien beeinflussten. In diesem Vortrag stellte ich den "geistigen Monismus" dem "materialistischen Monismus" gegenüber.

Einige Wochen nach dieser Vorlesung reiste ich nach Weimar. Zu der Zeit, als ich in Weimar ankam, war eine philosophische Bewegung im Gange, die in der gebildeten Welt großes Interesse erregte. Diese Bewegung trug den Namen "ethische Kultur". Was schlug sie vor? Im Wesentlichen strebte sie danach, die Ethik als einen von einer allumfassenden Weltanschauung getrennten Bereich zu etablieren. Sie vertrat die Auffassung, dass Moral und ethische Verhaltensnormen auch ohne Religion verwirklicht werden können. Sie bedürften nicht der Unterstützung durch eine religiöse oder spirituelle Weltanschauung und sollten dies auch nicht tun, hieß es.

Ich rebellierte gegen eine solche Sichtweise. Eine derart unsichere Grundlage für die Ethik schien mir unmöglich. Die Beweise dafür, dass ich diese Meinung vertrat, kann heute jeder finden, der sich einen fortlaufenden historischen Überblick über meine Schriften verschafft. Die Aufsätze, auf die ich mich beziehe [die aus den 1880er und 1890er Jahren], werden bald in einer Sammlung erscheinen, die chronologisch geordnet ist. Und der Beweis für meine Behauptung wird dort schwarz auf weiß stehen.

Warum habe ich rebelliert? Ich habe rebelliert, weil ich mit der Vorstellung nicht einverstanden war, dass sich die Ethik auf der bloß postulierten Grundlage einer Weltanschauung sicher etablieren könnte. Das widersprach meinem eigenen Wissen, und ich fühlte mich eingeschränkt. Ich behandelte dieses Thema in einer der ersten Ausgaben der "Zukunft", die gerade auf den Markt gekommen war.

Dieser Aufsatz über die problematische Haltung der "ethischen Kultur"-Bewegung erregte Haeckels Aufmerksamkeit. Ich hatte mich schon eine Weile in Weimar aufgehalten. Haeckel wohnte im gleichen Viertel in Jena. Obwohl wir auf unseren Wegen aneinander vorbeigekommen waren, hatte ich mich nicht um ihn gekümmert. Durch meinen Aufsatz wurde er auf mich aufmerksam, und er nahm Kontakt mit mir auf. Ich antwortete, indem ich ihm einen Abdruck des erwähnten Wiener Vortrags schickte - ein Vortrag, dessen Inhalt dem materialistischen Monismus einen geistigen Monismus entgegensetzt. Ansonsten hatte ich mich an der zeitgenössischen Diskussion nicht beteiligt. Wenn jemand behauptet, ich hätte eine Annäherung an den Haeckelismus gemacht, so ist es eine Tatsache, dass Haeckel sich zuerst an mich gewandt hat. Bei dieser ersten Begegnung kam es dann auch zu einer Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft.

Wer lesen kann, wird dies in den "Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert" (2 Bände, 1900 und 1901) schwarz auf weiß niedergeschrieben finden. Dieses Buch ist Ernst Haeckel aus einer gewissen Ehrfurcht vor seiner mutigen Persönlichkeit heraus gewidmet. Haeckel war großartig, trotz einiger fragwürdiger Schattenseiten seines Charakters. In diesem Buch stelle ich nur das dar, was von der naturwissenschaftlichen Bedeutung der Ergebnisse Haeckels her argumentiert werden kann. Auch kann aus der Lektüre dieses Buches in keiner Weise behauptet werden, ich hätte mich dem "Haeckelismus" verschrieben.

Ganz im Gegenteil! Lassen Sie mich eine persönliche Erfahrung anführen. Ich saß einmal mit Haeckel in Leipzig zusammen und sagte ihm, dass es schade sei, dass er bei so vielen Menschen eine Reaktion hervorrufe, die seiner Absicht zuwiderlaufe - nämlich die Meinung, dass er die Realität des Geistes völlig leugne. Er antwortete: "Ist es das, was sie denken? Lassen Sie mich ihnen nur eine Erwiderung zeigen und demonstrieren, wie alles in Bewegung kommt, wenn sich Stoffe vermischen." Da haben Sie es. Man sah, dass Haeckel sich unter dem Begriff des Geistes nichts anderes vorstellen konnte als Bewegung und Bewegung. Seine Naivität ließ nichts anderes zu. Er sah die Materie in Tätigkeit kommen und nannte dies "geistig" oder Geist, der sich offenbart. Er war grundsätzlich naiv gegenüber allem, was man Geist nennt.

So können Sie sich ein Bild von meinen Schriften aus den 1890er Jahren bis zum Aufsatz "Haeckel und seine Gegner" machen. Jeder, der sich ernsthaft mit diesen Schriften auseinandersetzt, wird feststellen, dass ich etwas anderes anbiete als eine rein materialwissenschaftliche Sichtweise. Solche Leser werden entdecken, dass ich in diesen Schriften der 1880er und 1890er Jahre etwas anbiete, was der allgemeinen Tendenz des naturwissenschaftlichen Denkens dieser Jahrzehnte entgegensteht. Diese Kritik habe ich 1897 in "Goethes Weltanschauung" ausführlicher entwickelt.

Was in dieser Zeit geschrieben wurde, geht dann in einer Entwicklungslinie weiter zur "Mystik am Beginn der Neuzeit" (1901; GA 7)ein Text, der fast gleichzeitig mit dem Buch "Welt- und Lebensbilder des neunzehnten Jahrhunderts" entstanden ist. Jahrhundert" entstanden ist. Solche Artikel sind Teil einer sich entwickelnden, geradlinigen Forschungslinie, die von naturwissenschaftlichen Voraussetzungen zu den in diesen Büchern behandelten Themen führt. Ich glaube, dass das Vorwort dieses ersten Buches einen klaren und nachdrücklichen Beweis für diese Behauptung liefert - in der Tat hätte die Behauptung nicht stärker hervorgehoben werden können, als es im Vorwort geschehen ist.