Literatur als Weg zum Menschsein

Holzschnitt von Arvia MacKaye Ege

 

Als universitäre Abteilung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft fördert die Sektion Schöne Wissenschaften eine Vielzahl von Forschungsinitiativen, die sich auf Kernfragen und Methoden der Hochschule konzentrieren.

Diese Forschungsinitiativen haben ihren Ursprung in der Arbeit und den Treffen der Sektion am Goetheanum, obwohl die Inspiration für eine Initiative von jeder Sektionsgruppe in der ganzen Welt ausgehen kann.

Die nordamerikanische Sektion hat ein besonderes Interesse an diesem speziellen Forschungsthema, und dieses nordamerikanische Interesse wird sich in der für 2024 geplanten Konferenz der nordamerikanischen Sektion niederschlagen.

 

Literatur als Weg zum Menschsein

Selbstbegegnung und Förderung der Gemeinschaft

Forschungsfrage und Hintergrund

 

Anmerkung der Redaktion: Dieser Forschungsprojektbericht ist einer von vielen, die auf der Goetheanum-Website für die Sektion und in der Publikation anderer von der Schule geförderter Forschungsprojekte erscheinen.

Klicken Sie hier, um dieses Dokument auf der Website des Goetheanum zu sehen.

======

 

Die Literatur verändert nicht die Welt, aber sie kann unser Verhältnis zur Welt verändern.

Die Literatur ermöglicht es uns, in andere Köpfe und andere Landschaften einzutauchen und neue Perspektiven einzunehmen. Sie ist ein Gespräch mit der Erde, dem Himmel und anderen Menschen - mit Toten und Lebenden. Literatur ist eine Erinnerung an vergangene Zeiten, während sie gleichzeitig der Gegenwart einen Spiegel vorhält und Einblicke in die Zukunft gewährt. Auf diese Weise regt die Literatur zu komplexem Denken an; sie fördert das Einfühlungsvermögen und ermöglicht es uns, die Vorzüge unseres Handelns zu bewerten, indem wir verstehen, wie andere gehandelt haben.

Die von der Sprache dargestellte Welt - sei es in Romanen, Erzählungen oder Gedichten - entsteht aus der Gestaltungskraft der Sprache.

Im Herzen eines jeden Schreibversuchs lebt diese Frage als offenes Geheimnis: Wie wird die Idee durch das Erzählen zur Realität? Wenn wir als Leser unsere Aufmerksamkeit vom Was auf das Wie verlagern - auf den Hammer und die Funken der Wortschmiedekunst - "wie wird das gemacht?" - dann können wir diesen schöpferischen Prozess besser nachvollziehen.

Das Wort hat als gestaltende Kraft eine geistige Verwandtschaft mit den schöpferischen Kräften, aus denen die Welt hervorgeht - und der Leser und der Schriftsteller haben Anteil an dieser gestaltenden Kraft.

Anhand von Werken der Weltliteratur vom Mittelalter bis zur Gegenwart wird exemplarisch gezeigt, wie die Literatur diese schöpferischen, formenden Kräfte im Menschen auf unterschiedliche Weise inspiriert und stimuliert.

 

Relevanz und Perspektive

Das "kreative Wort" ist ein Begriff, der heute kaum noch Verständnis hervorruft. Sprache und Worte dienen in erster Linie der Information, und selbst dieses Modell von Sprache wird durch die zunehmende Popularität der "Bildsprache" verdrängt. ChatGPT und computergenerierte Sprache drohen die Vorstellung von Autorschaft zu unterlaufen, und der Mensch als Schöpfer wird aus dieser Perspektive überflüssig.

Diese jüngsten technologischen Entwicklungen rücken eine Frage in den Vordergrund: Spielt der Mensch eine wesentliche, schöpferische Rolle als Gestalter von Sprache und Literatur? Die Beantwortung dieser essenziellen Frage ist entscheidend für die Zukunft. Die Literatur bietet uns die Möglichkeit, die Fähigkeiten einzuüben, die notwendig sind, um die wesentliche Bedeutung der menschlichen Urheberschaft zu erkennen.

 

Verfahren und Forschungsstand des Projekts

Auf der Grundlage der Literaturwissenschaft und der spirituellen Forschung Rudolf Steiners haben wir eine Methodik entwickelt, die es ermöglicht zu verstehen, inwieweit die Literatur einen humanisierenden Einfluss hat. Dies trägt dazu bei, den Weg für eine Begegnung mit dem wesentlich Menschlichen zu ebnen, und ermöglicht es dem Menschen letztlich, sich wieder mit der geistigen Welt zu verbinden.

 

Es entsteht eine vierstufige Methodik, die auf der anthroposophischen Pädagogik basiert.

Schritt 1: Lesen, um die wörtliche Bedeutung des Textes zu verstehen.

 

Schritt 2: Lesen, um die imaginären Aspekte des Textes zu verstehen. Dies entspricht der Erkenntnisebene, die in der Anthroposophie den Namen Imagination trägt.

 

Schritt 3: Lesen, um den imaginären Inhalt des Textes durch ein unendlich wiederholendes Lemniskum der Umkehrung und Neuschöpfung, bekannt als Inspiration, zu transformieren.

 

Schritt 4: Lesen Sie, um dem Ursprung des Textes zu begegnen: den wesentlichen Quellen, aus denen der Text entsteht und Leben hat. Dies ist gleichbedeutend mit Intuition, und hier steht der Leser als kreativer Gleicher mit dem Autor.

 

Natürlich lässt sich diese Methodik nicht pauschal auf alle Texte gleichermaßen anwenden, was wir anhand der Analyse verschiedener Texte zeigen. Die Individualität des Autors und die Individualität des Textes bestimmen, wie jeder Text zu behandeln ist. Es ist eine Methodik von Fall zu Fall erforderlich.

Die "Bedeutung der Literatur für den Menschen" ist ein Thema, das derzeit in den Neurowissenschaften diskutiert wird. Dazu gehören Forschungsbereiche wie die Salutogenese, die Leseforschung, die Ethik und die Philosophie. Dementsprechend beziehen wir uns auch auf diese aktuelle Forschung. Es folgen ein kurzer Überblick über die Bedeutung des Wortes von der Antike bis zur Gegenwart, ein Kapitel über Rudolf Steiners Sprachverständnis in Bezug auf unsere Fragestellung und eine Analyse verschiedener Texte.

 

Die folgenden Texte wurden als Beispiele untersucht:

  • Goethe: Gespräche von deutschen Flüchtlingen (das als letztes Kapitel enthält Das Märchen (von der grünen Schlange und der schönen Lilie) - ein Märchen, das Rudolf Steiner als "Keimzelle" der anthroposophischen Bewegung bezeichnete.
  • Goethe: Wilhelm Meisters Lehrzeit
  • Adalbert Stifter: "Himmlische Langsamkeiten" - Heilsame Rhythmen und irritierende Störungen. "Man spricht von den "himmlischen Längen" Beethovens - und man könnte auch von den "himmlischen Langsamkeiten" Adalbert Stifters sprechen. Die Langsamkeit der stillen und sanften Prozession seiner Dinge, Landschaften, Helden: als kehrten sie zurück, tauchten wieder auf nach einem sehr, sehr langen Vergessen." Peter Handke, Langsam im Schatten, 1992.
  • Franz Kafka: Die Metamorphose
  • Christian Morgenstern: "Ich stehe hinter den Sternen". Das Gespräch zwischen Mensch und Kosmos.
  • Rose Ausländer: "Rückkehr zum verlorenen Wort"
  • Patrick Roth: Sonnenaufgang: Das Buch von Joseph

 

Diese Texte sind in Arbeit:

  • Joseph von Eichendorff: "Es war wie ein ewiger Sonntag in meinem Kopf" aus Memoirs of a Good-for-nothing  (1826)
  • Parzival (Wolfram von Eschenbach)
  • Novalis: Verschiedene Werke.

 

Das Übersichtskapitel ist noch in Arbeit, ebenso wie die Analysen der Texte von Hölderlin und Marica Bodrožic.

 

Auflistung der Sektionsforschungsprojekte am Goetheanum

 

 

(Übersetzt aus dem Deutschen von Bruce Donehower,)

2.2.24