"Die Zukunft vorbereiten" von Peter Selg

Dieser Artikel erschien zuerst auf Deutsch in der Ausgabe vom 25. Juni 2022 des Newsletters Das Goetheanum. Er erscheint auf dieser Website der Sektion Literarische Künste und Geisteswissenschaften mit Genehmigung des Herausgebers des Newsletters. Lesen oder abonnieren Sie Das Goetheanum! 

Übersetzung des Aufsatzes durch Das Goetheanum Personal.

 

Überlegungen zur Freien Hochschule für Geisteswissenschaft: Die Arbeit der Sektionen in der Schule

von Peter Selg

 

Was ist die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft?

Das Goetheanum versteht sich als ein Freie Hochschule für Geisteswissenschaft mit verschiedenen Abteilungen (Sektionen), als Ort der Forschung, Ausbildung und Lehre, mit einem inneren geistigen Kern, der Anthroposophie, und die daraus entstandene "esoterische Schule des Goetheanum" [1] - als einen Kurs der systematischen internen Ausbildung, der im Zentrum aller Fachbereichsaktivitäten steht. Das Bild einer solchen Schule ist nach außen hin und in der gegenwärtigen akademischen Landschaft nicht leicht zu vermitteln; universitäre Einrichtungen haben in der Regel keinen internen Ausbildungsgang. Aber das könnte sich in Zukunft ändern - und das Modell Goetheanum hat viel für sich.

Das Bild - die Vision und Intention der Rudolf-Steiner-Schule - kann jedoch nur bedingt vermittelt werden selbst in der inneren Welt der Anthroposophischen Gesellschaft als faktischem Träger der oben genannten Schule. Viele ihrer Mitglieder verstehen unter der Schule ihre Treffen zu den Inhalten der ersten Klasse. Für sie ist die Schule eine esoterische Schule - ein "Hochschulkreis" wird in diesem Zusammenhang als ein Kreis von Klassenmitgliedern bzw. Meditierenden der Lektionen verstanden, ein "Hochschulgespräch" als Austausch untereinander. Vielerorts haben die Vermittlerzirkel wenig oder keine Verbindung zu den Fachgruppen und der professionellen Arbeit der Anthroposophie, manchmal nicht einmal mehr zum aktiven Teil der Anthroposophischen Gesellschaft vor Ort - und bilden ein Eigenleben. Nicht selten wird argumentiert, dass dieses Verständnis von Hochschulbildung - als rein esoterische Schule - das der Weihnachtstagung 1923/24 sei. Steiner hatte damals den Kontakt zur akademischen Wissenschaft abgebrochen und alles auf eine neue geistige Grundlage gestellt. Entsprechende Zitate dienen als Beleg.

Für das Goetheanum sind die damit verbundenen Fragen des Selbstverständnisses und der Identität existenziell - und vieles wird davon abhängen, ob es in den nächsten Jahren gelingen wird, mehr begriffliche Klarheit über die Schule zu schaffen, aber keineswegs nur - in terminologischer Hinsicht. Was versteht man unter dem Begriff "Freie Hochschule für Geisteswissenschaft"? Wenn man bei der Beantwortung dieser Frage auf die Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung und auf die Intentionen Rudolf Steiners zurückgreifen will, sind historische Reflexion und Bewusstseinsbildung obligatorisch. Ein Meilenstein in der Entwicklung der Dornacher Schule unter Rudolf Steiner waren die Ereignisse des Jahres 1922 [2].

 

Der Umbruch von 1922

In Deutschland wandte sich Steiner erneut mit zwei professionell organisierten Vortragsreisen im Januar und Mai 1922 an die Öffentlichkeit - und versuchte, den einzigartigen wissenschaftlichen Charakter seiner anthroposophischen Geisteswissenschaft zu demonstrieren [3]. Er führte auch zwei "Schulkurse" mit seinen Mitarbeitern in Berlin und Den Haag durch, mit lebendigen und anspruchsvollen Programmen. In Berlin war jeder der sieben Tage des Schulkurses im März 1922 einer bestimmten Fachdisziplin gewidmet und wurde von einem Fachmann geleitet (anorganische Naturwissenschaft/organische Naturwissenschaft und Medizin/Philosophie/Erziehung/Sozialwissenschaft/Theologie/Linguistik). Steiner hielt jeweils den Morgenvortrag, gefolgt von bis zu fünf Fachvorträgen - von Wissenschaftlern der Anthroposophischen Gesellschaft, die über die Durchdringung des Faches mit anthroposophischen Methoden und Perspektiven sprachen [4]. An vier Tagen des Schulkurses sprach Steiner auch abends im Oberlichtsaal der Berliner Philharmonie, andere Referenten hielten Vorträge in der Berliner Universität, und das Dornacher Eurythmie-Ensemble gastierte im vollbesetzten Deutschen Theater. Auch auf dem Wiener "West-Ost-Kongress" im Juni 1922 gab es umfangreiche Fachveranstaltungen [5].

[Anmerkung des Herausgebers: für weitere Informationen über die von Peter Selg erwähnten öffentlichen Kurse, Sehen Sie sich das Video der Präsentation von SteinerBooks-Herausgeber Clifford Venho an auf unserer Sektionssitzung am 14. Mai 2022].

 

Eine Kontroverse entbrennt

Die "Schulkurse" waren jedoch in den Reihen der Anthroposophischen Gesellschaft umstritten und wurden von vielen als Externalisierung und akademische Anpassung der Anthroposophie empfunden. Steiner spricht die Kritik vor Mitgliedern in Stuttgart und Wien im Mai und Juni 1922 an. Er versteht die Sorge und sieht derzeit einen "Abgrund" - ohne "Brücke" und "Vermittlung" - zwischen der geisteswissenschaftlichen Arbeit innerhalb der anthroposophischen Zweige und der öffentlichen Darstellung der neuen Geisteswissenschaft. "Und wir können die Brücke nicht schlagen, weil die Mitarbeiter fehlen und weil denen, die Mitarbeiter sind, die Zeit fehlt, diese Brücke zu schlagen zwischen dem, was die Welt heute von uns verlangt - die wissenschaftliche Begründung der Anthroposophie - und dem, was aus der Esoterik herausgearbeitet werden muss" [6]. In Wien sagte Steiner den Mitgliedern, dass man zur Zeit nicht darum herumkomme, die Anthroposophie vor dem wissenschaftlichen Bewusstsein der Zeit öffentlich zu vertreten - zumal man seit der Eröffnung des Goetheanum als "Freie Hochschule für Geisteswissenschaft" dazu gezwungen sei. Es ging aber nicht darum, die Anthroposophie der zeitgenössischen Wissenschaft näher zu bringen, sondern die Wissenschaft mit Anthroposophie zu durchdringen. Die "Fortbildung der Esoteriker" findet in Dornach parallel dazu statt und ist durchaus real [7].

Steiners Bilanz des Schulkurses in Den Haag und der anderen wissenschaftlichen Veranstaltungen im Jahr 1922 fiel sehr positiv aus. Nach seiner Rückkehr aus Den Haag lobte er in einer ausführlichen Rezension alle Beiträge seiner Mitarbeiter - Elisabeth Vreede verbinde "gründliche anthroposophische Einsicht mit hervorragender Klarheit darüber, wie die Anthroposophie in die einzelnen Wissenschaften einzuführen sei", schrieb er zum Beispiel [8]. Das sagt viel über sie und den Sinn der Schulkurse aus. "In Holland erlebte ich die Arbeit in einem Kreis von freundlichen Mitarbeitern. Ich lebte mit ihrer Arbeit [9]. Kritisch äußerte sich Steiner im angespannten Jahr 1922 nur gegenüber den anthroposophischen Ärzten des Klinisch-Therapeutischen Instituts in Stuttgart und einigen Naturwissenschaftlern am Goetheanum [10]. Die Ärzte um Friedrich Husemann waren ihm, auch in ihrer öffentlichen Positionierung, viel zu zaghaft und bedächtig, zu unentschlossen und unterwürfig gegenüber wissenschaftlichen und schulmedizinischen Autoritäten und Paradigmen. Auch mit der Vorbereitung einer wissenschaftlichen Tagung am Goetheanum Ende 1922 war Steiner unzufrieden; in Gesprächen mit Lili Kolisko, Ita Wegman und Albert Steffen missbilligte er das ihm von den Glashaus-Mitarbeitern um Oskar Schmiedel vorgelegte Programm und den Stil des Programms ("... dass die Wissenschaft so un-anthroposophisch dargestellt wurde"). Es habe ihm der Mut gefehlt, wirklich für das Geistige einzutreten [11].

 

Das erste Goetheanum

 

Über den Neubeginn der Weihnachtskonferenz

Wenige Tage nach dem Gespräch mit Wegman und Steffen brannte das Goetheanum, der Sitz der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, vollständig nieder. 1923 gab es keinen einzigen Schulkurs mehr; die Schule als geistige Einheit und Zielsetzung war nicht zerstört, wohl aber ihr Gebäude. Angesichts der Ruine und wegen der Aggressivität, der seine öffentlichen Vorträge und das Goetheanum - bis hin zur Brandstiftung - ausgesetzt waren, sah Steiner offenbar keinen Sinn mehr darin, mit weiteren Vortragsreisen und "Schulkursen" auf das Dornacher Projekt aufmerksam zu machen. Stattdessen suchte er die Anthroposophische Gesellschaft von innen heraus zu reorganisieren und zu einem effizienten Arbeitsorgan zu formen, einem Organ für das Wesen der Anthroposophie und einem tragenden Instrument der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, von deren Zielen er nicht abrückte. Bei der Neugründung der Gesellschaft und ihrer Schule ein Jahr nach dem Brand sagte Steiner, dass es in Zukunft nur noch darum gehe, den Impulsen der geistigen Welt zu folgen, im Zeichen der vollen Wahrheit und als Vertreter des anthroposophischen Wesens in der Welt aufzutreten. Anpassungsversuchen, die Anthroposophie oder den anthroposophischen Hintergrund aus strategischen Gründen in den Hintergrund zu drängen - etwa beim Vertrieb von Weleda-Präparaten oder der Plakatierung von Eurythmieaufführungen in Theatern - erteilte er eine klare Absage. Ziel sei nicht die Zustimmung der Umwelt, sondern der Mut, die Anthroposophie "offen und frei" in allen Bereichen zu vertreten. Gegenwärtig wolle die geistige Welt einen menschlich nächsten Schritt; man solle die Kritiker sprechen lassen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Ein viel "stärkerer Schub" der anthroposophischen Bewegung sei notwendig, um sich in der Gegenwart wirksam durchzusetzen.

Als der Arzt Willem Zeylmans van Emmichoven die Gründung der Medizinischen Sektion begrüßte, Steiners bisherige Kurse für Ärzte lobte, aber von einem notwendigen "neuen Reich im Herzen" sprach, akzeptierte Steiner seine Meinung nicht nur, sondern radikalisierte sie erheblich in seiner zustimmenden Antwort. Er sagte u.a.: "Wenn wir das, was auf unserem Boden medizinisch wächst, so beschreiben, dass wir den Ehrgeiz haben: unsere Abhandlungen können vor den gegenwärtigen klinischen Anforderungen bestehen -, dann werden wir mit den Dingen, die wir eigentlich als Aufgabe haben, nie zu einem bestimmten Ziel kommen ..." [12]. Aber genau das hatten Friedrich Husemann und seine Stuttgarter Kollegen bisher versucht, und zwar auf ihre Weise und auf ihrem Gebiet, möglicherweise auch einzelne Naturwissenschaftler in Dornach. Steiner schien mit Entwicklungen, die er bisher zwar toleriert, aber nicht für weiterführend gehalten hatte, am Ende zu sein. Die "Verschweißung" der akademischen Arbeit mit der Anthroposophie lehnte er ab. Zu Beginn der ersten Unterrichtsstunde sagte er: "Mit dieser Stunde möchte ich die Schule als esoterische Einrichtung wieder der Aufgabe zuführen, der sie in den letzten Jahren entrissen zu werden drohte" [13]. Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum wird in Zukunft eine esoterische Schule sein [14].

 

"Ein Weg zur Erkenntnis?"

 

Kehrtwende oder geistige Kontinuität?

Dies konnte als völliger Neubeginn und entscheidende Abkehr von allen bisherigen "Schulkursen" und akademischen Zielsetzungen zugunsten der "reinen" Anthroposophie und Esoterik gedeutet werden - und diese Art des Empfangs der Weihnachtstagung hat bis heute Tradition. Demnach ist die Schule der Ort, an dem mit den Mantras der esoterischen Schule gearbeitet wird, mit den Elementen ihrer ersten Klasse. Aber ist es das, was Rudolf Steiner meinte und wollte? Zweifellos ging er energisch gegen Angst, Stagnation und Konformität (zu akzeptierten wissenschaftlichen Autoritäten und Doktrinen, herrschenden Paradigmen und öffentlichen Trends) vor; er wollte kein "mixtum compositum" von konventioneller Wissenschaft und Anthroposophie, sondern eine grundlegende Erneuerung des wissenschaftlichen Lebens, der akademischen Welt - auch der gesamten Welt der wissenschaftlichen Phantasie. Er wollte eine offensive Darstellung der Anthroposophie und keine Kompromisse. Die Zeit lässt dies nicht mehr zu, die europäischen Entwicklungen in Gesellschaft und Politik steuern auf Folgekatastrophen zu, und mit tolerantem Abwarten und einem "langen Atem" ist nichts gewonnen. Steiner reagierte auf die zeitgeschichtliche und inneranthroposophische Situation. Die Diffamierung der Anthroposophie und seiner Person hatte er nun über viele Jahre hinweg erlebt. Obwohl er den Dialogversuch von seiner Seite nicht abbrach, investierte er nach der Weihnachtstagung keine Energie und Zeit mehr in anthroposophische "Schulkurse" und öffentliche Vortragsreisen in Großstädten, sondern baute die Dornacher Freie Hochschule für Geisteswissenschaft und die sie tragende Anthroposophische Gesellschaft neu auf. Er richtete die "Esoterische Schule des Goetheanum" für alle potentiellen Mitarbeiter ein, die sich für diese Ausbildung im Sinne des Michaels Wesens und Weges entschieden, sowie die spezialisierten Abteilungen für die einzelnen Lebensbereiche - die allgemeine für alle und die spezielle.

Die esoterische Schule sollte die innere Substanz des Goetheanum und der Anthroposophischen Gesellschaft bilden - und die Schule zu gründen. Diese besteht aber aus den Sektionen, deren Aufgabe es ist, die Disziplinen mit der Anthroposophie zu durchdringen und umzugestalten, zu forschen, auszubilden und zu lehren - und neue Impulse in die Welt zu bringen, mit großer Verantwortung und Engagement und mit sozialer Gesinnung. Nach Ita Wegman verstand Steiner die Sektionen als spirituelle 'Gemeinschaften' für die Arbeit in der Welt in einem pfingstlichen Geist [15]. Rudolf Steiner hatte das immer so gesehen, aber nicht alle Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft und nicht alle Mitarbeiter des Goetheanum. Er wollte produktive Leistungen und Ergebnisse von der Schule, keineswegs nur esoterische Lektionen und Vorträge. In einer Nachtsitzung, Wochen nach dem Brand am Goetheanum, sagte er: "Das Zweite ist, dass dieses Goetheanum den Nebentitel 'Freie Hochschule für Geisteswissenschaft' trägt und dass der Anspruch erhoben wird, wissenschaftliche Leistungen zu zeigen. Die Opposition mag groß sein, aber das Volk darf nicht recht haben. Es ist unmöglich, sich gegen diese Opposition zu stellen, indem man ein Goetheanum, diese Hochschule für Geisteswissenschaft, baut, wenn man darauf hinweisen kann, dass wissenschaftlich nichts geleistet wird" [16]. Diesen Standpunkt vertrat Steiner auch auf der Weihnachtstagung und danach. Auf der Weihnachtstagung liess er den Physiker Rudolf Maier über den Zusammenhang von Magnetismus und Licht und Lili Kolisko über die Wirksamkeit "kleinster Wesenheiten" referieren, mit allen entsprechenden Diagrammen und Schaubildern aus ihrer experimentellen Arbeit. Er wünschte sich eine "echte anthroposophische Methodik" in den naturwissenschaftlichen Disziplinen, ja, er hielt sie für die Zukunft für entscheidend. Es gehe um systematische Impulse mit konkreten Forschungsergebnissen - "dann wird eines der Haupthindernisse beseitigt, die gegen die geistige Forschung selbst in der Welt von heute bestehen." "Aber alle diese Versuche stehen im Grunde nur vor den anthroposophischen Anschauungsdetails zu einer Totalität, zu einer Totalität, die eigentlich heute wissenschaftlich so dringend wie möglich gebraucht wird" [17]. Steiner stützte sich auf die Sektionen und ihre Forschungsinstitute - in den Geistes- und Naturwissenschaften. Er wollte echte, wahre Esoterik, "die denkbar größte Publizität", sichtbare Ergebnisse und Leistungen. Immer wieder sprach er - auch auf der Weihnachtstagung - von dem medizinischen Lehrbuch, an dem er mit Ita Wegman arbeitete. "Es wird vor den Augen der Welt erscheinen... [18].

 

Anthroposophie:
". . ein Weg des Wissens,
die darauf abzielt, das Geistige im Menschen zu führen
zu dem, was im Universum geistig ist...".

 

Anthropos:
(ἄνθρωπος); griechisch: "Mensch"

 

Sophia:
(σοφία); griechisch: "Weisheit"

 

Die Zukunft vorbereiten

Rudolf Steiner hatte nur noch wenig Zeit, bereitete sich aber auf die Zukunft vor. 1924 setzte er nicht mehr auf einen Umschwung in der öffentlichen Meinung, sondern auf die Ausbildung seiner Mitarbeiter und interessierter Fachkreise, die sich dem Goetheanum anschließen wollten. Darunter waren so disparate Gruppen wie die 'jungen Ärzte', das Lehrerkollegium der Stuttgarter Waldorfschule und die Priester der Christengemeinschaft; er nahm alle Mitglieder dieser drei Gruppen in die Schule auf (auch ohne individuellen Antrag und qua Beruf) und betrachtete sie als Repräsentanten, als Mitarbeiter der Universität in der Zivilisationsarbeit der Anthroposophie [19]. Steiner studierte bis zu seinem Tod wissenschaftliche Neuerscheinungen und liess sich die entsprechenden Bücher von Günther Wachsmuth aus Basel ans Krankenbett bringen. Er kannte die Entfremdung, die Instrumentalisierung und den gesellschaftlichen Missbrauch der Naturwissenschaft. Einen Aufruf, "der Wissenschaft zu folgen", hätte er nie unterschrieben. Aber er wusste, was gute wissenschaftliche Arbeit für den Fortschritt der Zivilisation und des menschlichen Bewusstseins ist und bedeuten kann. Dass zwei Jahrzehnte später, 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, sein Mitarbeiter Günther Wachsmuth ein über 400 Seiten umfassendes Werk mit dem Titel "Erde und Mensch - ihre Gestaltungskräfte, Rhythmen und Lebensprozesse" veröffentlichen sollte, hätte Steiner wohl gefallen; er hätte es als eine Leistung der Dornacher Schule angesehen. In seiner Monographie beschrieb Wachsmuth die Erde ausführlich als lebendigen Organismus, unter ausführlicher Berücksichtigung der damals vorliegenden wissenschaftlichen Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Rhythmologie und verwandter Gebiete - und im Bewusstsein der zivilisatorischen Gefährdung. In der Folge erschienen beachtliche Rezensionen in wissenschaftlichen Zeitschriften und in der "Schweizer medizinischen Wochenschrift". Letztere bescheinigte Wachsmuth, die bisher umfassendste Darstellung "auch aller wissenschaftlichen und medizinischen Beiträge zum Rhythmusproblem" vorgelegt zu haben. Im Organ des "Öffentlichen Dienstes" in Zürich konnte man im September 1946 lesen: "Wachsmuths Arbeit fordert zu einer ganz grundsätzlichen Feststellung heraus. Angenommen, man muss seine Forschungsrichtung anerkennen. Dann gibt es sehr viele ungeheuer neue Gesichtspunkte für unser Weltbild, und es scheint fast an der Zeit, dass in den Hörsälen und Klassenzimmern die Blickfelder in dieser Hinsicht eine wesentliche Erweiterung erfahren" [20].

 

"Eastern Point Light" von Winslow Homer, 1880

 

Michaels Studenten

Man kann sich fragen, was dies alles für die Gegenwart und die Zukunft bedeutet.

Es erscheint wesentlich, dass eine Verengung des historischen Wissens und eine Vereinfachung dessen, was Rudolf Steiner mit der Weihnachtstagung 1923/24 geleistet und beabsichtigt hat, nicht angebracht ist. Sie bedeutete keine Hinwendung der Anthroposophischen Gesellschaft nach innen und keine Schaffung zusätzlicher innerer Zirkel mit esoterischem Geltungs- oder gar Führungsanspruch. Sie gipfelte aber in der Neuformulierung eines umfassenden Hochschulkonzepts im Geiste von Michaelis - und dessen schrittweiser Verwirklichung. Das Tempo, das Steiner 1924 beim Aufbau der Sektionen, bei den beruflichen Ausbildungskursen - mit spiritueller Fundierung - und bei der Reorganisation der Anthroposophischen Gesellschaft vorlegte, war atemberaubend. Er hatte nur noch wenig historische Zeit zum Bauen und Arbeiten. Er wollte etwas in die Welt setzen, das Bestand haben sollte - neue Modellinstitutionen, die mit einer anderen Methodik arbeiteten, aber dem Menschen und der ganzen Erde dienten, auf dem Gebiet der Pädagogik und der Medizin, der Heilpädagogik und der Landwirtschaft usw. Der Impuls für diese Einrichtungen sollte von der Dornacher Schule und ihrer Forschung, Lehre und Ausbildung ausgehen. Steiner sah das Goetheanum als ein geistig-künstlerisches Zentrum ohne hierarchischen Anspruch, sondern als ein Herzorgan geistiger und sozialer Initiative. Die Abteilungen der Sektionen sollten als Fakultäten im universitären Verständnis von Forschung, Lehre und Ausbildung wirken. Zugleich aber sollten sie esoterische Gemeinschaften sein - als Vereinigungen global tätiger Menschen, die aus einem tiefen anthroposophisch-michaelischen Impuls heraus in ihrem Fach, als "Michaelsschüler", zusammenarbeiten. "Sektionsärzte" oder "Sektionsschwestern" waren für Ita Wegman diejenigen, die Mitglieder der Schule waren und sich zusätzlich für die Arbeit (und den Beitritt) der Medizinischen Sektion angemeldet hatten und aufgenommen worden waren. Um 1930 gab es etwa 300 international tätige Ärzte, Krankenschwestern, Apotheker und Heilpädagogen.

Vielleicht hätte Steiner nach der vollständigen Einrichtung der Dornacher Schule die öffentlichen 'Schulkurse' im Sinne der Jahre 1920 bis 1922 wieder aufgenommen, Fertigstellung des zweiten Goetheanum-Gebäudes, der notwendigen Arbeitsinstitute, und nach der Präsentation "wissenschaftlicher Leistungen" - aber wohl erst dann. Was er 1923/24 - auch im Umgang mit der akademischen Wissenschaft und dem öffentlichen Leben seiner Zeit - vollzog, war keine Kehrtwende, sondern eine Neuordnung der Kräfte. Der 'Geist der Weihnachtstagung' ist durchaus vereinbar mit dem, was Steiner bereits Ende 1911 als Ziel der Schule des Johanni-Baus beschrieben hatte - "Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft wird das entwicklungsfähige Wissen dort aufgreifen, wo seine offiziellen Vertreter es heute im Materialismus erstarren lassen, und es zur Erkenntnis des Geistes hinaufführen . . . [21].

 

"Die vielen Probleme werden gelöst werden müssen".

In den kommenden Jahren wird viel davon abhängen, ob diese Konzeption der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft wieder in das Bewusstsein ihrer Mitarbeiter und der Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft eindringt - oder dort weiter an Klarheit, Kraft und Intensität gewinnen kann.

Das Tempo und der geistige Schwung, den Steiner an den Tag legte, konnten nach 1925 nicht mehr aufrechterhalten werden.und die Anthroposophische Gesellschaft verstrickte sich in sich selbst. Einer, der die Weihnachtstagung am tiefsten erlebt und verstanden hatte, Willem Zeylmans van Emmichoven, schrieb 1948: "Die vielen Probleme, die mit der Schule und den Sektionen verbunden sind, werden gelöst werden müssen. Ja, was für einen Inhalt haben diese Begriffe überhaupt? Man braucht nur an das zu denken, was Rudolf Steiner mit der Weihnachtstagung vorhatte, an die Dreiteilung der Schule und an das Verhältnis der Sektionen zu den Klassen, um zu erkennen, dass das, was durch unsere Zusammenarbeit [nunmehr] verwirklicht werden kann, etwas anderes und Bescheideneres sein muss" [22]. Das andere und bescheidenere muss jedoch nicht unbedingt ein völlig anderes sein - und einige sektionale Entwicklungen nach 1948 beeindruckten Zeylmans. Sein Begriff der Bescheidenheit ist zweifellos zukunftsweisend - verbunden mit dem Bemühen, das Konzept der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft immer tiefer zu verstehen, etablierte Positionen, Traditionen und Terminologien in Frage zu stellen und radikal nach dem zu suchen, was intellektuell gewollt und veranlagt ist und dessen schrittweise Verwirklichung eher in der Zukunft als in der Vergangenheit zu finden sein wird [23]. Die Vergangenheit mit Rudolf Steiner tiefer zu verstehen, hat schulenden und damit vorbereitenden Charakter.

Klicken Sie auf diesen Satz, um den zweiten Teil dieses Essays zu lesen, der in der Osterausgabe 2023 des Newsletters der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion erschienen ist.

Endnoten
1. GA 270 II, 3. Auflage. 2008, p. 90.
2. Vgl. Peter Selg, "Anthroposophie als Streben nach der Christianisierung der Welt". Das Krisenjahr 1922 bis zum Brand des Goetheanum. Dornach 2022.
3. Siehe GA 80 a, 1. Auflage. 2019 und Peter Selg, Streitgespräche über die Zukunft des Menschen. Rudolf Steiner in Deutschland 1922. Arlesheim 2022.
4. Siehe GA 81, 1. Auflage. 1994.
5. Nachdruck des Wiener Programms in Peter Selg, 'Anthroposophie ...'. A. a. O., S. 72 ff.
6. GA 255 b, 1. Auflage 2003, S. 353.
7. GA 211, 3. Auflage. 2006, p. 198. Vgl. die internen Vortragskurse, die Steiner zu dieser Zeit in Dornach abhielt und die ein Ausdruck seiner geistigen Forschung und Lehre waren, z.B. GA 210-214.
8. GA 82, 2. Auflage. 1994, p. 246.
9. Ebd., S. 250.
10. Siehe Peter Selg, "Anthroposophie ...". A. a. O., S. 24 ff.
11. Siehe Emanuel Zeylmans van Emmichoven, Wer war Ita Wegman. Eine Dokumentation. Bd 1. Heidelberg 1990, S. 122
12. GA 260, 5. Auflage. 1991, p. 278.
13. GA 270 I, 3. Auflage. 2008, p. 1.
14. GA 270 III, 3. Auflage. 2008, p. 191.
15. Siehe Ita Wegman, Erinnerungen an Rudolf Steiner. Arlesheim 2009, S. 55.
16. GA 259, 1. Auflage. 1991, p. 254.
17. GA 260, 5. Auflage. 1994, p. 212.
18. Ebd., S. 57.
19. Siehe Peter Selg, Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft und die Michaelschule. Arlesheim 2014, S. 117 ff.
20. Nachdruck der Rezension in Heinz Herbert Schöffler, Günther Wachsmuth. Ein Porträt des Lebens. Dornach 1995, S. 152.
21. GA 337a, 1. Auflage. 1999, p. 324.
22. In: Peter Selg, Willem Zeylmans van Emmichoven. Anthroposophie und die Anthroposophische Gesellschaft im 20. Arlesheim 2009, S. 181 f.
23. Vgl. a. das kurze Positionspapier der Goetheanum-Leitung "Was will die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum?", in: Ueli Hurter/Justus Wittich (Hg.), Zeit des Covid. Über die geistige Signatur der Gegenwart. Dornach 2020, S. 275-277.

8,16.22