"Albert Steffen: Herausgeber wider Willen" von Alexander Lüscher

Dieser Artikel erschien zuerst auf Deutsch in der Ausgabe vom 25. Juni 2022 des Newsletters Das Goetheanum. Er erscheint auf dieser Website der Sektion Literarische Künste und Geisteswissenschaften mit Genehmigung des Herausgebers des Newsletters. Lesen oder abonnieren Sie Das Goetheanum!  

Aufsatz Übersetzt von Das Goetheanum Mitarbeiter

1921: Das Jahr der Krise

Albert Steffen hatte die Redaktion der Wochenzeitschrift übernommen Das Goetheanumgegründet im Jahr 1921. Die damit verbundene persönliche Tragödie wurde von Ruedi Bind im letzten Studienheft der Albert Steffen Stiftung ausführlich beschrieben. Es besticht durch eine reiche Auswahl an dokumentarischen Belegen - vor allem die vielen Auszüge aus Steffens Tagebuch, die für das Verständnis der Geschichte der anthroposophischen Bewegung ein unschätzbares Zeugnis darstellen. Durch diese in ihrer Authentizität berührenden Äußerungen Steffens entsteht ein ausgesprochen lebendiges Bild seines jahrelangen existenziellen Kampfes, der mit der Übernahme des Redakteursamtes ausgelöst wurde.

Steffen hatte zuvor in einer eher abgeschiedenen Welt der Dichter gelebt und nun konfrontierte ihn seine redaktionelle Arbeit direkt mit der Außenwelt und ihren erbittert geführten geistigen Kämpfen. Die Atmosphäre war politisiert und ideologisch aufgeheizt, als die erste Nummer der Internationale Wochenzeitschrift für Anthroposophie und Dreigliederungdie von ihm herausgegeben wurde, erschien am 21. August 1921. Damals stand nicht das Dorf Dornach, sondern das katholische Arlesheim im Zentrum einer massiven Kampagne gegen das Goetheanum. Im grossen innerschweizerischen Gegnernetzwerk von ganz rechts bis ganz links wurde mit allen Mitteln versucht, das Werk Rudolf Steiners zu verhindern. Inmitten dieses tobenden Kampfes fand sich der 36-jährige Albert Steffen, der die Poesie als sein Lebenswerk ansah und die Arbeit als Journalist eigentlich verabscheute, platziert. Nun stellt sich die Frage: Warum diese plötzliche radikale Störung des kontemplativen, introvertierten Dichterdaseins?

Diese äußerst bedeutsame Zäsur in Albert Steffens beruflicher Laufbahn durch die Übernahme einer verantwortungsvollen, aber ungeliebten Tätigkeit verursacht wurde, stand in engem Zusammenhang mit der besonderen Konstellation der Schicksale dreier weiterer Persönlichkeiten: Roman Boos, Willy Storrer und Rudolf Steiner. Roman Boos, Jurist und treibende Kraft der Dreigliederungsbewegung in der Schweiz, hatte immer den Plan, ein Pressemedium zu gründen, das die anthroposophische Sicht der Dinge vertreten sollte. Sein Projekt, die Herausgabe der Monatszeitschrift Soziale Zukunfthatte nicht den gewünschten durchschlagenden Erfolg gebracht. Der Kriegserklärung der Gegner sollte mit einer eigenen Zeitung wirksam begegnet werden. Er wollte den politischen Teil der Redaktion übernehmen.

Der junge Willy Storrer, Journalist und Verfechter der Dreigliederungsbewegung, hatte ebenfalls den Wunsch, eine Zeitung zu gründen. Er zeigte besonderes Interesse an kulturellen Veranstaltungen. Obwohl dies eine gute Voraussetzung für eine fruchtbare Zusammenarbeit zu sein schien, entwickelte sich die Situation ganz anders. Roman Boos erlitt einen psychischen Zusammenbruch und war gezwungen, sich aus allen Aktivitäten zurückzuziehen. Willy Storrers Bestreben, die volle Verantwortung für das Zeitungsprojekt zu übernehmen, wurde von Rudolf Steiner entschieden zurückgewiesen; er beschränkte Storrers Aufgabengebiet auf administrative Belange: Auf diesem Gebiet sollte er sich zuerst bewähren. Wie sah es nun mit der redaktionellen Arbeit aus? Rudolf Steiner erklärte sich bereit, das ursprünglich für Boos vorgesehene Ressort - den politisch-ökonomischen Bereich - zu übernehmen. Er wollte Albert Steffen als alleinigen Redakteur mit dem Schwerpunkt Kultur, und Steffen stimmte schließlich zu. So kam es zur "redaktionellen und journalistischen Zusammenarbeit" Albert Steffens und Rudolf Steiners, die Bind eindrucksvoll beschreibt.

 

"Warum lässt er mich nicht aufhören?"

- Albert Steffen

 

Albert Steffen

 

Ein Gefühl der drohenden Katastrophe

Die gute Seite von Albert Steffens Arbeit als Redakteur war seine enge Zusammenarbeit mit Rudolf SteinerDoch auch hier zeigt sich eine Schattenseite, die ihn beunruhigte. Er beurteilte seine Fähigkeiten als Redakteur als unzureichend. Er litt buchstäblich unter einem "Gefühl der Katastrophe" und beklagte, dass die "unkreative" Arbeit ihm die Freude raubte.

"Ich sitze da und überlege vergeblich [worüber ich schreiben könnte]. Denn [das Schreiben] muss ich ja tun. Schließlich bin ich als Redakteur angestellt. So vergeht die meiste Zeit der Woche. Die Leute, die zu mir kommen, finden einen gequälten und zornigen Menschen vor, statt wie früher einen Helfer und Tröster. Ja, ich bin ein Leichnam geworden." (9.4.1924) 

Schon am 6. Dezember 1921 hatte er sich in Bezug auf Rudolf Steiner gefragt: "Warum lässt er mich nicht aussteigen? Warum hilft er mir nicht, mich zu befreien?"

Das war die große persönliche Schicksalsfrage von Albert Steffenbesonders gegenüber Rudolf Steiner. Es war für ihn schwierig, Steiners Haltung zu verstehen.

 

Gedicht "Breitseite" von Bruce Donehower

 

Hingabe an das Wort

Der Wunsch, aus der beengenden Situation auszubrechen, hinderte Steffen nicht daran, seine Pflicht gewissenhaft zu erfüllen als Redakteur. Sein Engagement ging sogar darüber hinaus. In den folgenden Monaten zögerte er nicht, sich in seiner Eigenschaft als bekannter Schweizer Dichter öffentlich für die Einbürgerung Rudolf Steiners einzusetzen. Er verfasste einen Appell, schrieb Briefe an den Bundesrat und wandte sich auch persönlich an einzelne Bundesräte. Damit nahm er seine öffentliche Verantwortung als Herausgeber der Das Goetheanum: um persönlich für Rudolf Steiner und die Anthroposophie einzutreten. Dennoch sah er seine eigentliche Lebensaufgabe, seine Arbeit als Dichter, beeinträchtigt - und sogar gefährdet.

 

Dreifache Struktur des Wochenjournals

Nach der Weihnachtskonferenz und der Neugründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, Das Goetheanum erhielt eine neue innere Ausrichtung: Sie sollte sich in den Dienst dieses Impulses zur geistigen Erneuerung stellen. Für die Mitglieder wurde eine neue Beilage eingeführt. Sie trug den Titel: Was sich in der Anthroposophischen Gesellschaft abspielt. Steffen übernahm auch die redaktionelle Verantwortung für diesen Newsletter. Die Unternehmensstruktur rund um diese beiden Publikationen war recht komplex; sie war im Grunde dreigeteilt. Auf der einen Seite gab es die Redaktion, die für die geistigen Inhalte zuständig war. Steffen war für diesen Bereich zuständig. Auf der anderen Seite gab es die Verwaltung, den wirtschaftlichen Bereich. Dafür war Willy Storrer zuständig, der seinen Auftrag in dieser Hinsicht aber recht locker handhabte. Die weitgehend autonome Verwaltung war zunächst wirtschaftlich mit der Verlagsabteilung Futurum am Goetheanum verbunden, später mit dem Goetheanum-Verein bzw. dessen Rechtsnachfolger, der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Dann gab es noch - sozusagen in der Mitte zwischen den beiden Polen - die eigentliche juristische Person der Das GoetheanumRedaktion: Redaktion. Dies waren die Institutionen, mit denen die Zeitungsverwaltung verbunden war. Es handelt sich um ein bemerkenswertes dreigliedriges institutionelles Modell - sehr interessant für Studienzwecke!

 

Aushang an einer Pinnwand in Spring Valley, NY

 

Steffen kämpfte mit Storrerder verantwortliche Verwalter oder Herausgeber. Mit ihm, aber auch mit seinen Vorstandskollegen und anderen führenden Anthroposophen als Vertreter der Redaktion, geriet er immer wieder in Konflikt und fühlte sich in seiner Autonomie als Herausgeber eingeschränkt. "Redakteur versus Verleger und Herausgeber", so Bind, war für Steffen ein großes Thema. Seine Arbeit wurde wesentlich von seinem unmittelbaren sozialen Umfeld geprägt, das sich ihm gegenüber als "Helfer, Hemmschuh und hemmender Helfer" verhielt, so Bind. In diesem Zusammenhang tauchen die Namen Paul Bühler, Roman Boos, Hans Reinhart und Willy Storrer auf. Binds Beschreibung dieser Persönlichkeiten ist geprägt von sachlicher Objektivität, ohne Beschönigung oder Verherrlichung.

Ein Beispiel für diese Darstellung: "Willy StorrerEr war rastlos, immer auf dem Sprung, von sich eingenommen und laut, bis zu seinem frühen Tod 1930 in seinem eigenen Sportflugzeug. Er konnte andere faszinieren und motivieren, mit ihm zu arbeiten, nicht so sehr, um mit ihm zu arbeiten, sondern um für ihn zu arbeiten. Er war immer der Chef."

Oder: "Roman Boos war ein Kämpfer, am liebsten gegen etwas, noch lieber gegen jemanden: gegen diejenigen, die nicht begreifen wollten, dass die soziale Dreigliederung die Lösung war, dann gegen Gegner, die Rudolf Steiner angriffen, dann gegen Pfarrer Max Kully, der sich dafür eingesetzt hatte, Rudolf Steiner zu behindern und den Bau des Goetheanum zu verhindern. Als Rudolf Steiner noch lebte, kämpfte Boos auch gegen Ita Wegman. Dieser vehemente Kampf verlagerte sich nach Ita Wegmans Tod auf Steffen."

Über die Zeit nach Rudolf Steiners Tod finden sich in Binds Darstellung nur spärliche Angaben. Der Schwerpunkt liegt auf den Jahren 1921 bis 1925. Dieses Spannungsfeld wird eindrucksvoll in dem Kapitel mit dem Titel Der Künstler konfrontiert den Redakteur und die Journalistinund ist mit Zitaten belegt. Wenige Tage vor Rudolf Steiners Tod enthält das Tagebuch die Anfänge eines sich abzeichnenden Verständnisses für die Bedeutung der schicksalhaften Situation: "Dr. Steiner sagte, er habe lange über meine Frage nachgedacht, was ich schreiben solle, und schlägt mir vor, die Frage zu lösen, warum Künstler Angst haben, Anthroposophen zu werden, weil sie glauben, ihre Gaben, ihre unbefangene Produktivität zu verlieren. Das ist keine theoretische Aufgabe, sondern eine künstlerische. Ich habe mich immer als Diener gefühlt. Und wenn jemand, der tiefere Einsichten hat als ich, eine Arbeit für mich notwendig findet, dann mache ich sie. Selbst wenn es das Putzen von Stiefeln wäre. Ist das nicht gut?"

 

[Anmerkung des Herausgebers: Bei unseren jüngsten Sektionstreffen haben wir begonnen, die bemerkenswerte Freundschaft zwischen dem Amerikaner Percy MacKaye und Albert Steffen zu beleuchten. Diejenigen Leser, die sich für die Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft interessieren, möchten sich vielleicht mit Percy MacKaye, einem Dichter und Dramatiker, vertraut machen].

 

8.7.22